Frederick Bunsen
Letters to Julia 1994, ca. 80 cm x 50 cm, Eitempera auf Papier
Frederick Bunsen erzählt mir bei einem Gespräch über ein Bild das mein Interesse weckt, dessen Entstehungsgeschichte:
1979 entdeckte er die fragmentarischen sedimenthaften Aufzeichnungen eines unbekannten sechzehnjährigen Mädchens aus dem Jahre (Oktober) 1945. Er weiß, daß sie den 2. Weltkrieg überlebte. Sie schreibt in Französisch.
1995 entstand sein Bild, das palimpsestartig die Textfragmente des Mädchens in die Gesamtkomposition des Bildes so integriert, daß ihr Text lesbar bleibt.
Heute, Dezember 1996 (2 Jahre nach der Entstehung des Bildes, oder 52 Jahre nach dem Entstehen des Textes)laßt mich Frederick Bunsen teilhaben und eintauchen in den Kommunikationsprozeß, der zur Geschichte des Bildes ebenso gehört wie zur geistig-emotionalen Beziehung zwischen Bunsen, jener unbekannten Französin und - schließlich mir.
Das französische Textfragment jenes unbekannten jungen Mädchens besitzt eine sichtbare, linguistische Ebene: die der unvollständigen Konjugation des Verbs "commencer" (beginnen, anfangen) im subjonctif present, einer besonderen konjunktivischen Form des Französischen und ebenfalls unvollständig, des subjonctif imparfait. Es fehlen Formen der ersten und zweiten Person singular: je, tu (ich, du), von der Form der dritten Person singular il und elle (er und es) und von der dritten Person plural: ils (sie)
qu´elle aie commencé qu'elle
que nous ayons commencé que nous eussions
que vous ayez commencé
qu'elles aient commencé
daß sie begonnen hätte daß sie...
daß wir begonnen hätten daß wir...hatten
daß ihr begonnen hättet
daß sie begonnen hätten
Reduktion von Komplexität (Reduktio in mysterium)
Der Text hatte einen hohen Aufforderungscharakter für Bunsen. Er "entdeckt" das Mädchen in ihren Zeilen und gibt ihr in dem Geburtsakt der Wiederentdeckung den Namen: Julia. In diesem Moment entdeckt er auch seine Liebe zu ihr, der Julia vergangener Tage und wird zu ihrem Romeo der Gegenwart. Durch diesen Akt der Entdeckung und Namengebung erhält das Fragment zum ersten Mal Transzendenz - gleichzeitig auf mehreren Ebenen.
Bunsens Kunsthandlung wird zur lebendigen Antwort, zur lebendigen Dokumentation eines toten Mädchens, das über ihren Tod hinaus lebt.
Er gibt Antwort durch Farbe und formale Zeichenstruktur. Mit seinem Zugriff wird zuerst der zeitliche Rahmen, in welchen der Text niedergeschrieben wurde, gesprengt. Im neuen künstlerischen Kontext weisen die Worte Julias selbst-verständlich (selbstevident) auf eine Zeit, über ihre ursprüngliche Zeitdimension hinaus, in welcher die ursprüngliche Ausgang ihrer Niederschrift einst formuliert wurde: Im neuen Sinnkleid wirkt sie zeitlos.
Bunsen beschreibt den Prozeß, der seinem Gestaltungsprozeß vorausging - ihn dabei und danach in der Kommunikation mit mir begleitet:
Indem ich mit "Julias" Text arbeite, über ihre Worte reflektiere und mich dazu selbst in Beziehung setze, beginnt "Julia" lebendig zu werden und ich beginne, diese sie zu lieben. Ich "spreche" mit ihr und mit mir selbst, mich dabei beobachtend und abwartend, was ihr Text in mir auslost. welche Bilder und Vorstellungen er wachruft. Ich erkenne ihre hoffnungsvolle "Ecriture" und versuche, mir ihre Ausgangssituation am Ende des Zweiten Weltkrieges vorzustellen. Ich begegne dabei meinen eigenen Gefühlen: Angst, Wut, Verzweiflung und Hoffnung. die sich in der ihren spiegelt. Fast wie eine Beschworungsformel wirkt ihr......
daß sie begonnen hatte, daß sie... daß wir begonnen hätten, daß ihr begonnen hättet, daß sie (weibl.) begonnen hatten...
Durch die Wiederholung und die semantische Lücke am Satzende noch verstärkt, lese ich einen nachdrücklich und eindrücklich geäußerten, also einen brennenden Wunsch nach Anfang, Beginn, nach Engagement, nach Handeln, vielleicht auch die Sorge und Erschütterung darüber, daß noch nichts geschehen ist und vielleicht Anklage von Schuld und Versagen aber auch Erwartung.
Die Erwartung "Julias" weckt meine Erwartung. Die Hoffnung verbindet uns. In Gedanken vervollständigen sich die Sätze. Füllen sich die semantischen Lücken mit dem, was nach "Julias" oder meiner Ansicht hätte genau begonnen werden sollen, damit "Julia" hätte ihr Leben ausleben können. Fragen leiten meine Gedanken: Zu welchem Anlaß verfaßt "Julia" diese Zeilen?... Fühlte sich "Julia" tot, obgleich sie lebte?
Nun lebt sie, in ihrem Text, in mir, in meinem Bild, in unserem Gespräch, in den Gedanken jener, die das Bild und die Gedanken "Julias" mit ihrem eigenen Gedanken beobachten.
Ein Stein, der, ins Wasser geworfen, Kreise zieht. Vorsichtig schiebt sich eine Antwort über "Julias" Flehen, das zu meinem Flehen wird.
Die Konjugation des Verbs hat eine strenge Form. Die Wiederholung schreit auf mich ein. Sie bildet den Käfig für die Gedanken. Die Gedankenlücke am Satzende wird zum Loch, durch das meine Gedanken entschlüpfen und die Differenz zwischen dem Nicht-Gesagten "Julias" aus dem Jahr 1945 und dem Gedachten, aber dem von mir heute Noch-Nicht Gesagten überbrücken.
Schließlich erhält jeder Satz ein sogenanntes heimliches Fragezeichen, denn Fragen bleiben offen. Fragen öffnen, ermöglichen Transzendenz. Antworten sind nichts anderes als Codes, die entziffert wurden.
Mich inspirierte dieses Textfragment der jungen Französin zur Bildgestaltung hin. Das daraus gewordene Bild verweist nunmehr auf Zeitlosigkeit.
Eine Mehrdimensionalitat entsteht durch die Einbeziehung von "Julias" Text in mein Bild u.a. durch ...
1. die verschiedenen zeitlichen Ebenen, die berührt werden
2. graphische Tiefe (Strukturen, Linien)
3. malerische Tiefe (z.B. tiefes Blau)
4. textliche Tiefe (Konnotation)
5. Überlagerungstiefe (Farbschichten, Zeiten {Palimpsest}, Text-Bild, Gedanken)
6. optische Tiefe (Vordergrund-Mittelgrund-Hintergrund)
Das fertige Bild wurde zu einer geschenkten "Rose" als Antwort an "Julias" einst formulierten Ecriture: Deshalb erhielt es den Titel: Letters to Julia.
In Bunsens Bild verdichten sich Gestaltungs- Kommunikations- und Metakommunikationsprozess. Somit bekommt das Bild für mich Tendenz, Transzendenz und innere Dynamik. Verschiedene Formen sind entstanden und werden in und durch ihre Differenz zueinander von mir wahrgenommen- oder auch nicht, kommuniziert- oder auch nicht (Selektion).
Je mehr Formen ich in "Letters to Julia" entdecke und selektiere, desto mehr entstehen für mich neue Differenzen, woraus ich immer wieder neue Sinnbilder ableite.
Flüchtig wahrgenommene Differenzen aus dem Sedimentären der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft im Bild werden tangiert, wahrgenommen, teilweise ins Bild und teilweise ins Gespräch mit FD Bunsen integriert, ihr Sinn schließlich dadurch erweitert und relativiert. Das Bild laßt auch historische Erinnerungen (Mimesis) durch das Datum des Schriftstucks vom Oktober 1945 wach werden. Es ist aber die gegenwärtige Antwort des Künstlers darauf, die mir eine Perspektive eröffnet, gleichzeitig auf Vergangenes und Künftiges verweist. In der Differenz dieser Zeitschwingung ist "Julia" nunmehr für mich gegenwärtig ... unvergessen.
Was dem Künstler gelingt oder was daraus abgeleitet werden kann, wird lediglich dann einen Sinn bekommen, wenn aus dem Bild mehr Information hervorgeht als aus der Komposition der einzelnen Teile (Verweissungsüberschuß). Eine Teilnahme des Betrachters findet in der Beobachtung des Bildes, seiner Mittel und Medien, bis hin zur Transzendenz ins Bild hinein, statt:: Dadurch vermittelt das Bild sich selbst (Autopoesis der Kunst).
Systemtheoretisch kann weder Julias Schriftstuck noch Bunsens künstlerische Arbeit am Schriftstuck den Kunstsinn eigenständig vermitteln. Erst in der Differenz dieser und anderer Bildteile offenbart sich mir der Sinn des Bildes (Autopoiesis).
Erforderlich ist jedoch, daß ich das Bild aus dem Blickwinkel des Künstlers (was sein Bild ausmacht) gründlich betrachte (Beobachtung 2. Ordnung).
Die Nachvollziehung im Beobachten der malerischen, strukturellen und linguistischen Komponenten (Codes), bildet die Grundlage für ein Gelingen dieses mehrdimensionalen Kommunikationsprozesses in, durch und mit dem Bild.
Angelika Peschke, Bad Homburg, im Mai 1997