Die
durch differenzierendes Beobachten berührende Erkenntnis
© copyright FD Bunsen, Stuttgart 1998
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sich vor:
Niklas Luhmann war Künstler! Dieser Kunstschaffende liebte es nämlich,
Lebensformen unserer Gesellschaft in detailliertestem Maße zu beobachten, um
daraus die menschlichen Interaktionen, die er Kommunikation nannte, in einem
fortwährenden Beobachtungsprozeß zu "zeichnen".
Dieser kreative Mitmensch wählte weder den
Farbkasten noch das Internet als Medium seines Ausdruckes aus, sondern die Sprache. Hierin konnte er den Begriff Medium, welchen er mit eigenen
Erfahrungen ausfüllte, inhaltlich so
erweitern, daß alle seine Beobachtungen von Gesellschaftsformen samt ihren
Wirkungen in einer Denkstruktur beständig blieben. Nicht, weil Luhmann bisher
völlig Neues beschrieb oder weil er sehr viel Wissen in seiner Lebenszeit
ansammelte, darf er als große Gestalt gelten, sondern weil er uns einen neuen
Weg der Erkenntnis im tagtäglichen Umgang mit unserer Gegenwart gezeigt hat.
Das ist in der Tat sein wahres Vermächtnis und Erbe.
So wie Joseph Beuys in jedem einen Künstler
sah, so erkannte Niklas Luhmann die Besonderheit des universell-kommunikativen
Dialogikers in uns allen, und zwar als Teil eines stets offen-unabgeschlossenen
Systemprozesses. Wie bei Performancekünstlern wird das Augenblickliche, an dem
man schafft, sobald es geschaffen ist, zugleich wieder vergänglich. Niklas
Luhmann hat das Selbstverständnis der Kommunikation in einer sprachlichen Weise
als Form erfaßt, so daß es nicht für
die Zukunft verloren ging. Im wesentlichen belegte er, wie die Gesellschaft
durch Kommunikation in sich vernetzt ist, und zwar sowohl in ihrer Struktur an
sich als auch in ihrer Auswirkung auf die Verständigungsbasis der Menschen.
Begriffe wie Form und Sinn ergeben somit neue Inhalte in einer
noch nie zuvor verwendeten Weise. Und weil wir noch nicht gewöhnt sind, in
einem systemischen Selbstverständnis die Welt(en) unseres Alltags zu begreifen,
wirkt Luhmanns Gedankengut für uns um so komplexer; denn wer ein System linear
zu erfassen versucht, bleibt außen vor.
Nochmals: Niklas Luhmanns geistiges Erbe
liegt im Wirklichen des jetzigen Schauens, nicht nur aus unserer eigenen
Perspektive, mit der wir die Gegenwart aufnehmen, sondern in der Art und Weise,
wie wir die Gegenwart betrachten, die
letzten Endes uns die Erschließung von Sinn
verspricht. Mit seinem Aufweis einer immerwährenden Differenzierung auf
Sinn als Verweisungsüberschuß[1] erfaßte
Luhmann Grundsätzliches über das Kommunikationsbedürfnis der Menschen, das zu
deren Hauptcharakteristikum wird.
Mir wurde oft genug die Frage gestellt, warum
ein Mensch sich so komplex ausdrücken
muß. Solche Fragen sind jedoch gleichsam auch das tägliche Brot des Künstlers.
Es sind Fragen, die, um ihnen gerecht zu werden, eigentlich von den Mitteln der
Parodie oder der Ironie Gebrauch machen sollten, denn das Unverständnis des
Inhalts liegt ja nicht in der Komplexität des Autors.
Auf die ständige Aktualität seines eigenen
Kommunikationsprozesses bedacht, legt Luhmann dar, daß die Form Sinn ist mithin Medium und Form zugleich, und zwar so, daß das
Medium seinerseits nur als das Prozessieren (Bearbeitung) von Formen aktualisiert werden kann[2]. Mit anderen Worten, die
Möglichkeiten von Formkombinatorik, die einen Sinn[3] überhaupt ableiten lassen,
lassen Freiraum auch für andere Selektionsmöglichkeiten, die zum Sinn führen,
zu. Die komplexen Anordnungen seiner sprachlichen Struktur lassen ahnen, auf
welche Weise eine Gesellschaft Sinnvolles aus der variablen Neuanordnung von
bestehenden (Lebens-) Formen erkennt und kommuniziert. In der Unberechenbarkeit
dieses Prozesses war Luhmann unterdessen sein eigenes „Medium und Form„
zugleich[4].
Wie bei der Kunst wird das, was kontrovers
und komplex in unserer Zeit erscheint, in absehbarer Zukunft für eine
Gesellschaft zum Selbstverständnis. Aber die Auseinandersetzung mit der
geistigen Welt von Niklas Luhmanns wird zur Erkenntnis nur im Prozeß der
Auseinandersetzung, nicht im Vorurteil. Wer sich die Mühe macht, die
sprachlichen Formkompositionen von Luhmann zu erkennen, begreift dabei
zugleich, daß der Sinn wohl die Existenzberechtigung ihrer Formkomplexität
preisgibt. Wer ihn noch "treffen" will, muß ihm auf diesem Gebiet
begegnen: Scharfsinn, Esprit und auch Humor bezeugen einen unter Hingabe seiner
geistigen und körperlichen Kraft zutiefst liebenden Menschen. Darin zeigt er
die humanistische Authentizität, mit der er seine Gedankenwelt vorstellt und
vermittelt.
Der Spannungsbogen von Größe
und Bescheidenheit machte Niklas Luhmann als Person interessant und
faszinierend. In der Begegnung mit ihm wurde für mich deutlich, wie ein
wirklich großer Mensch sein eigenes Maß erkennt, nicht so sehr aus der großen
Beachtung, die er weltweit erhält, sondern durch seine eigene Kontur als
Person, in der Arbeit und aus dieser Arbeit heraus.
Bekanntlich geht ein schöpferischer Mensch
bei der Arbeit in seinem Werk völlig auf, so, daß er sich selbst dabei vergißt.
Aber während er seinen inneren Bezug zum Kunstprozeß schafft, beobachtet er
sich, wie er selbst, von außen her, in exzentrischer Perspektive, bei der
eigenen Arbeit schaffend vorgeht beziehungsweise, wie andere dies auch zu tun
vermöchten. Derart war Niklas Luhmann Künstler.
In der Anwendung des eigenen Handwerks bewies
er mir erstmals 1988, wie seine Theorie von der Praxis abgeleitet war. Zuerst
schaffte er es, durch unvoreingenommene, konzentrierte Beobachtungen, aus meiner Perspektive meine Bilderwelt
wahrzunehmen. Daraus verstand er es, mit meinen entschlüsselten Codes meine
Bilder zu betrachten, mit denen wir unsere gemeinsame Kommunikation - ob
wohlwollend oder auch kritisch – entwickelten und vertieften.
Wir hatten uns zuvor telefonisch verabredet,
gleich nach der Verleihung des Hegel-Preises im November 1988 in Stuttgart zu
meinem Atelier zu fahren. Ich sollte ihn direkt danach in der Eingangshalle des
Schloßhotels abholen, was mir wie eine große Entführung erschien. "Wer war
dieser Mann, der auf das ganze Drumherum anläßlich seiner Preisverleihung
verzichtete, um sich mit meinen Bildern zu beschäftigen?" überlegte ich
damals. Während der Fahrt in mein Atelier konnte ich meine Neugier kaum im Zaum
halten.
Im Atelier hingen die Wände noch voll mit
großformatigen, abstrakt-expressiv gemalten Bildern. Als erstes dachte ich, wie
würde jemand, der vielleicht nicht soviel Kunsterfahrung hat, mit dieser
Abstraktion moderner Kunst umgehen, und inwieweit würde die postulierte
Betrachtungsweise seiner Systemtheorie ihm hierbei eine Hilfe sein.
Als Niklas Luhmann sich langsam mit der
Umgebung vertraut gemacht hatte, bemerkte ich, wie sich seine Gesichtszüge
entspannten und ein Lächeln sein Gesicht überzog, so wie es bei jemandem
geschieht, der etwas Interessantes für sich entdeckt hatte. Er fühlte sich von
einem der Bilder besonders angezogen, blieb davor stehen und betrachtete es
eine Weile, ohne ein Wort zu sprechen[5].
Von der anderen Seite des Zimmers aus
beobachte ich ihn still, gespannt, wie er auf dieses Bild reagieren würde,
überlegte für mich, was er wohl fragen würde, ob er sich nach meiner geistigen
Ideenwelt oder nach dem, was ich beim Malen dabei gedachte hatte, erkundigen
würde - das Übliche eben, was einem Künstler zu Ohren kommt, wenn ein
Betrachter mit dem Bildinhalt nicht weiter wußte.
Die Stille wurde unterbrochen, als er sich
mir zuwandte und sich erkundigte, wie
ich so[6] vorginge, um ein solches
Bild zu malen. Es wurde spannender.
Ohne zuerst auf das Bild konkret einzugehen,
lud ich ihn ein, vor der Staffelei Platz zu nehmen, während ich ihm aufzeigte,
wie sich ein Bild aufbauen könnte und in welcher spontanen, unreflexiven Weise
sich ein Entstehungsprozeß unmittelbar ereignete und verwirklichte. Zum
Beispiel wurde spontan mit frisch angerührter Farbe eine dunkle Form auf einen
Malgrund aufgebracht, die beim ersten Blick nichts Erkennbares von sich
mitteilte. Erst nachdem sie mit einem transparenten Kreis übermalt wurde, ergab
sich die Form eines Auges, aus dem eine sichtbare Tiefe von hinten nach vorne
hervortrat. Die Differenz der übereinander aufgetragenen Malschichten brachte
hier Neues hervor, was Luhmann sofort erkannte.
Über eine Stunde lang machten wir das Spiel
der Differenzierung mit der Auswahl verschiedener Formen. Dadurch konnte er
erkennen, wie Neues, aus der zum Teil zerstörerischen Aufhebung einer zuvor
gesetzten Malschicht, hervorging. Schließlich blieb niemals die ursprüngliche
Form übrig, sondern die Auswirkung einer Kombinatorik mehrerer Formen. Momente
wie Raum, Zeit, Tiefe, Paradox oder Spannung waren die Ergebnisse, und er
teilte seine Erkenntnis mit dem glänzendem Blick und Freudestrahl eines
Lernenden mit. Zum Schluß wurde jenes Bild, welches Luhmanns Interesse von
Anfang an auf sich zog, wie selbstverständlich entziffert[7].
Wie Menschen mit ihren Augen
schauen, ist für mich in jeder Kommunikation wesentlich. Ich schaute z.B.
einmal einem Künstlerfreund zu, während er malte, um zu erkennen, wie sich hier
Auge, Handlung und Intention in Übereinstimmung befanden, darin die
Authentizität seines Vorgehens bezeugten. So fasziniert mich der scharfsinnige
Blick von Niklas Luhmann immer wieder. Mehrmals noch trafen Niklas Luhmann und
ich uns - einmal bei mir zu Hause, ein anderes Mal in einer Galerie, wo ich
ausstellte, oder dann in seinem Hotel - zum letzten Mal bei mir im Jahre 1995,
als es für uns um die verschiedenen Tiefenwirkungen im Bild ging.
Kunst ist
Kommunikation: Niklas Luhmann "schöpfte" Erkenntnis in der Freiheit
(s)einer Kommunikation. Mit seiner Erweiterung des Begriffes Medien hat sich der Begriff der Kunst
über den theoretischen Ansatz von Joseph Beuys hinaus gleichsam autopoietisch
erweitert; denn wer Künstler wird, wird zugleich zu Form und Medium in dem,
worin er mit seiner Gesellschaft kommuniziert. Ohne Zweifel wird diese
Kommunikationsweise Konsequenzen für die moderne Mediengesellschaft des neu
anbrechenden Jahrtausends haben.
[1] Siehe hierzu ausführlich in: N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 92-147 (Kapitel 2: Sinn).
[2] Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 174.
[3] Vgl. ebd. Luhmanns Begriff von ‘Sinn‘, S. 173-178.
[4] Ebd.: Siehe N. Luhmann zur Unterscheidung von Medium und Form. S. 165-172. Vgl. auch N. Luhmann, Das Medium der Kunst. Neudruck in: Frederick D. Bunsen (Hrsg.), "ohne Titel": Neue Orientierungen in der Kunst, Würzburg 1988, S. 61-71.
[5] Ein ähnliches Bild befindet sich in: Luhmann, Bunsen, Baecker, Unbeobachtbare Welt.Über Kunst und Architektur (Verlag C. Haux Bielefeld, 1990), S. 69.
[6] Vgl. Aufsatz, Ohne Titel wie so? in: Luhmann, Bunsen, Bathelt - betreffend die Kunst FD Bunsens (Nalors Grafika GmbH, Vác, Ungarn 1993), S. 4-5.
[7] Vgl auch die Fußnote 10
in seinem Aufsatz„Weltkunst„, in: Luhmann, Bunsen, Baecker,
Unbeobachtbare Welt (wie Anm. 7), S. 9.