Epitaph und Epistel

Ausstellung Frederick Bunsen an der Universität Stuttgart (Hahngebäude)

Herwarth Röttgen 1984

Frederick Bunsen

Frederick Bunsen
Strasse 1983, ca. 25 x 50 cm, Kaltnadelradierung auf Papier


Frederick Bunsen

Frederick Bunsen
Grab 1982, ca. 30 x 30 cm, Acryl auf Papier


Frederick Bunsen

Frederick Bunsen
Epitaph 1982, ca. 25 x 25 cm, Acryl auf Papier

Skelette, Kopfe, Automobile, Briefe, Noten
Gefühl von Grenzsituationen
Bilder des Vergänglichen
Überlieferung eines Briefes mit Schicksal
Menschen-Komodie

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Epitaph und Epistel, das eine bedeutet Erinnerung auf einem Grab und das andere Sendung, Brief, also Mitteilung.

Frederick Bunsens Malerei und Zeichnung kreisen
um die Thematik der Überlagerungen in der Zeit und im Raum, aber auch besonders in der Erinnerung als einer Koordinate aus Zeit und Raum. Da sind die Gräber: es sind in der farbigen Totalität ästhetisch sehr reizvolle Schichten von Flachen und Strichen über Skeletten, Briefcollagen, Notenschriften.

Dann gibt es die Verdichtungen von Flachen und Bahnen, zum Teil in einem düsteren Gesamtton, die Assoziationen an Stadt- und Straßenlandschaften hervorrufen und mitunter wie düstere, regennasse Spiegelungen wirken. Sie rufen im Betrachter das Gefühl von Grenzsituationen hervor, die Bunsen in Titel wie "Send my cheques to heaven" oder "Ich gehe auf dem rosaroten Strich" faßt.

Und drittens gibt es die Kaltnadelradierungen unter dem Titel "Richtungen", in denen der Künstler die Abstraktionen von sich überlagernden Prozessen sehen mochte. In diesem Sinne hat er auch diesem Faltblatt eine "Epistel" zugefügt, in der das Übereinander wahllos wirkender Skripturen Ausdruck wohl auch undurchschaubarer, vielleicht sinnloser Prozesse sein soll. Auch in den Schriftcollagen seiner Gräber bleibt undurchschaubar, wer da eigentlich was, vermittelt durch ein Skelett, der Nachwelt oder sich selbst zur Kenntnis bringen wollte: Der Künstler, der fiktive Verstorbene oder der unbekannte Schreiber aufgefundener Manuskripte?

Es sind Bilder des Vergänglichen. Der Künstler überlegte sich als Ausstellungstitel "Bunsen im Wunderland". Es ist das Wunderland der Sinnlosigkeiten auf einen absurden Sinn gebracht, nämlich den der Vergänglichkeit der menschlichen Komödie, der Scheinhaftigkeit aller Perspektiven in den Stadtlandschaften und der absurden Prozesse widerstreitender Richtungen. Skelette, Kopfe, Automobile, Briefe, Noten verweisen auf "vorganglich-nachgangliches Leben und Tod", wie Bunsen mit der sprach-schopferischen Unbekümmertheit eines imaginativen Menschen sagt, der die ihm nicht unmittelbar eigene deutsche Sprache mit kindlicher Freude an dem, was dabei herauskommen konnte, gebraucht, so wie er auch von "Vergangenzeit - Gegenzeit" spricht.

Die sich überlagernden vielschichtigen Texturen von Farbbahnen und Farbflachen, durchlässig in der Flache und zugleich umschlagend in Raumperspektiven, mal in ganz fadenscheinigen Flachenstrukturen, mal in straffen Diagonalen, Vertikalen und Horizontalen, sind für den Künstler verdichtete Erinnerung an die Stratigraphie der täglichen städtischen Impressionen. Es handelt sich dabei nicht immer um die Anschaulichkeit von Straßen-perspektiven, sondern oft um bloße mentale Umsetzungen. Seit action painting und Informel wissen wir, daß es sich um die Umsetzung von Empfindungen, Zustanden in kreative Motorik dreht. Die gewählten Titel haben denn auch oft rein assoziativen Ursprung, denn ebenso wie der Betrachter bringt auch der Künstler sein Handeln erst im schaffenden und auch im nachvollziehenden Prozeß auf einen Begriff.

In den Kaltnadelradierungen der "Richtungen" schließlich werden die Linienstrukturen zum Ausdruck einer prozeßhaften Automatik der Empfindungen, die sich von allem Gegenständlichen nahezu gelost haben, wenn auch mal hier und da das Motiv eines Kopfes, eines Körpers anklingt. Das Übereinander von Geschriebenem in der "Epistel" ist dem assoziations-tragenden Übereinander von Linien in den Kaltnadelradierungen sehr verwandt. Die Oberschichtungen sollen ein vielstimmiges Neben- und Übereinander erzeugen, zugleich ein Nacheinander, so wie auch in der Komprimierung von Zeit im fiktiven räumlichen Medium des Bildes in den "Gräbern" Nebeneinander und Obereinander gleichzeitig Nacheinander bedeuten.

Das Auge stellt sich auf die Elemente des Bildes ein und assoziiert vergangene Zeit gleichzeitig mit Gegenwart, Überlieferung eines Briefes mit Schicksal. so wie ein Epitaph Erinnerung wachhält. Die letztlich aber mangelnde Gegenstandlichkeit, die nur undeutlich vage Assoziierbarkeit von Inhalten lassen Bunsens Bilder in der fragilen Durchsichtigkeit oder auch melancholischen Düsterkeit Schließlich als sehr anschauliche Auseinandersetzung mit der Fragwürdigkeit allen positivistischen Gegenwartsglaubens erscheinen.

Der Künstler selbst freut sich im Gespräch an all dieser Menschen-Komodie, so als ob in der Vergänglichkeit als einziger Sicherheit doch ein fröhlicher Trost lebe. Der Mensch hat seine Stadtlandschaften zu guter Letzt doch überwunden und ruht sich im Grabe auf Noten und Briefen aus: "Send my cheques to heaven" oder was siehst Du?
Herwarth Röttgen, Stuttgart 1984

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