An die ungeborenen Enkel

Deutungsversuche zu "Grodek" von Georg Trakl und Frederick Bunsen

Thomas Schreijäck 1988

Grodek 1988

Frederick Bunsen
Grodek 1988, 67cm x 78cm, Acryl auf Papier



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2. Fassung
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger. Die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergoßne Blut sich. mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den
schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden
Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des
Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein
gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.

Die nachstehenden Gedanken sind keine Interpretation und auch keine endgültige Deutung. Dennoch sind es Gedanken aus der Begegnung und dem Umgang mit schon Gedachtem. Als Gedanken zu schon gemachten Gedanken folgen sie in zweifacher Richtung dem Erfahrenen: der Kunst im Wort - nämlich der Dichtung und der abbildenden Kunst - im Bild. Sie folgen dem Gedanken des Dichters insofern sein Gedanke im Gedicht den Leitfaden des nun wiederum neu zu Bedenkenden abgibt. Und sie gehen ein in das lichtende Sehen im Bild des Malers, der seinerseits - auf den Gedanken des Dichters hörend - das Gehörte ins Bild setzt, ausdrückt und anschaulich werden läßt.

Das begründet wiederum die Einheit des Gedankens zu schon Gedachtem, insofern und gerade weil der Bezug ein einheitlicher Bezug ist, denn die Grundlage für alles und zu allem Angesprochene ist das Dichterwort aus "Grodek", dem letzten Gedicht von Georg Trakl, kurz vor seinem frühen und tragischen Tod geschrieben. Grodek ist Ruf und Mahnung zugleich, das darin Erlebte ernst zu nehmen - zu er-innern - und zum Imperativ für eine menschlichere Welt werden zu lassen.

"Grodek" ist in diesem Sinn ein ausgezeichnetes Gedicht, weil es das Verfügtsein von Zeit, Raum und Sprache zeichenhaft ausspricht. Das Gedicht ist deswegen ausgezeichnet nicht zur Deutung, wohl aber zur Herausforderung an das Denken. da es das Verfügtsein von Denken im Horizont von Zeit, Raum und Sprache selber ausspricht.

Hier setzt der Maler an. Frederick Bunsen nimmt dieses zeichenhafte Verfügtsein von Zeit, Raum und Sprache auf und Ernst. Die Auseinandersetzung und das Werden seines Bildes "Grodek" ist ein langer und noch nicht abgeschlossener Prozeß, wenngleich zum Jahrsbeginn 1988 das Bild als "sein" Grodek dasteht. Was aber dasteht, ist Anfang. Vielleicht ist es Ausgang oder gar Hinausgang in die Ausgesetztheit des Grodek-Gedankens selbst. Hinaus in die Entgrenzung jeglicher Zeit und jeglichen Raumes und auch jeglicher Sprache. Hinausgesetzt sein in die Offenbarkeit dessen, was ist: darin jedoch in einen unabschließbaren Prozeß. der bis zu jenen Zeiten und in jene Räume verläuft; der ungeborenen Enkel.

Der Maler nimmt "wahr", was das Dichterwort sagt, entgrenzen - nicht eingrenzen. Nicht fliehen - sondern verweilen. Zu hoffen, aus dem, was ist, auf das hin, was noch nicht ist. Denen zu gewähren. die noch nicht sind, was ihrer ist: ihre Zeit, ihren Raum und ihre Sprache. Ihnen - den ungeborenen Enkeln. Das ist des Malers Grodek. Sein Angebot, sein Aufschrei. Freilich will Bunsen keine vorschnelle Identifikation zwischen Bild und Weltgefühl. Noch weniger die Selbstidentifikation von Bild und Betrachter. Das, was ist, ist unverfügbar und Auftrag zugleich. Darin ist es vergleichbar mit dem Ausgang aus dem anfangshaften Urchaos ins liebend. ordnende Gestalten. Aufbruch auf einem Weg, dessen Ziel der Weg selbst ist. Getragen von der Überzeugung, daß die Entgrenzung von Zeit und Sprache in der Negation der Negation verwahrt ist, Räume eröffnet und Türen aufstößt im Gegensatz zur Definition und Determination. So erst wird Kunst zur Botschaft. Eine, die anstrengt. Und darin zugleich eine Botschaft, die freilich nicht ans Ende kommt. Dennoch in und aus der Hoffnung, daß das Ganze vom vorläufigen Ende her gesehen gerade doch noch glücken kann.

Wohl verläßt das Sehen und Denken an dieser Stelle die gewohnte Logik und verweist damit auf eine Zeit und ein Logik, die die alte Logik nicht kennt bzw. gar nicht kennen kann. Eine neue Logik der Zeit scheint auf, oder aber auch eine neue Zeit der Logik, die es bisher noch nie gab, jetzt aber ihren Anfang in der Zeit nimmt. Für die Botschaft des Malers Bunsen heißt das: Noch aber ist Zeit, wenngleich eine fragwürdige Zeit. Für den Maler und für den Dichter werden ihre Anliegen zur Aufforderung im Sehenden und im Denkenden. durch Sehen und Denken zugleich das Fragwürdige des Gesehenen und des Bedachten in dieser Zeit zu erfragen.

Es ist Abend. Der Abend ist eine bestimmte Zeit, die Zeit der Dämmerung, der anbrechenden Dunkelheit, aber auch die Versammlung dessen, was am Tag war, und dessen Ende. Insofern der Abend den Tag in eins versammelt, ist er eine ausgezeichnete Zeit. Es ist die Zeit der endgültigen Gegenwart dessen, was nun ist. Der Abend vermag nichts mehr am Verlauf des Tages zu ändern, wenngleich er diesen als den Tag enthüllt und offenbart, der er war. Der Abend ist die Offenbarkeit dessen, was war, und zu gleich dessen, was nun ist. Mehr noch: Es ist Herbst. Wohl ist der Herbst so wie der Abend auch die Zeit der Versammlung all dessen, was war: die Zei1 der letzten Ernte, aber auch die Zeit des schon beginnenden Verfalls, die Zeit eines sich langsam ankündigenden Sterbens.

Der Abend wie auch der Herbst bringen zum Ausdruck, was je zugleich ist und geschieht. Damit aber gerät die gewohnte Zeitlogik ins Wanken. Denn immer dann, wenn Abend ist, muß ja nicht Herbst sein. Herbst ist auch am Morgen, und Umgekehrt. Am Morgen kann auch Frühling sein so wie am Abend. Bei Trakl aber tönen am Abend die herbstlichen Wälder. Und dann ist Abend nicht im Frühjahr. Sommer oder umgekehrt: Nur im Herbst ist Abend. Und das, was dann im Herbst und am Abend und sonst nie sich ereignet, ist, daß die Wälder tönen.

Der Abend und der Herbst, von denen hier die Rede ist, stehen stellvertretend für Abend und Herbst überhaupt. Dieser Abend ist allgemeine Abendstunde, und dieser Herbst ist allgemeine Herbstzeit, Zeit der Zeit selber, deren Versammlung und letztgültige Zeitigung als Abend und Herbst. Und dieser Abend und dieser Herbst sind somit nicht in einer tages - oder jahreszeitlichen Weise ausgezeichnete Zeit, wohl aber Zeit des Bestimmtseins von dem, was allgemein in der Zeit gezeitigt wurde.

An diesem Abend tönen die herbstlichen Wälder von tödlichen Waffen - so schreibt der Dichter weiter. Nicht herbstliche Wälder durchstimmen Zeit und Raum, sondern Waffen. Waffen sind tödlich. Ihr Tödlichsein gehört zu ihrem Wesen. Waffen jedoch sind vom Menschen gemacht und vom Menschen gewollt. Damit verweisen Waffen und ihr Wesen zugleich auf das, was den Menschen eigen ist: zu töten. Waffen sind das vom Menschen Gemachte und das ihm Eigene. Mit diesen Waffen hat der Mensch etwas Bestimmtes in einer bestimmten Zeit hergestellt, was anderen Menschen Not und Unheil bringen könnte. Mehr noch: er hat mit den Waffen eine Zeit hergestellt, welsche Zeit seine Zeit ist. Sie ist damit Zeit der tödlichen Waffen, des tödlichen Eigenen des Menschen.

Worauf der Dichter Bezug nimmt, ist die Schlacht von Grodek, die vom 6. bis zum 11.11.1914 geschlagen wurde.

Nun ist neue Zeit, die Zeit, in der das Wesen des Menschen, sein Eigenes, und das von ihm Gemachte haupt zeigt jetzt ihr Gesicht als die vom Menschen letztgültig hergestellte und verfügend gewollte Zeit: Der Mensch wird Herr der Zeit in ihrer Herstellung: diese aber ist zugleich deren Ende: Endzeit ist angebrochen am Abend und im Herbst. Damit wird diese Endzeit unausweichlich auch zur Endzeit dessen. dessen Symbol die Waffen sind und der sich anschickte, sie noch mit seinem Machtwillen zu beherrschen: die Endzeit des Menschen selbst.

In ihr herrscht die Diktatur des Wesens der Waffen: Vernichtung von Zeit, Tod, Untergang. Und vielleicht zeigt sogar der Mensch selber jetzt sein wahres Gesicht, sein Eigenes, jetzt am Ende und endgültig.

Jetzt ist "neue Zeit", für die eine "neue Logik" gilt. Sie lautet: Immer wenn es Abend wird mit dem Menschen und seiner Zeit, tönen die herbstlichen Wälder von dem, was der Mensch aus seinem Machtwillen gemacht hat: den tödlichen Waffen. Und umgekehrt: Immer wenn die Waffen als Symbol menschlichen Machtwillens ertönen, ist Abendstunde, Stunde des Untergangs, Endzeit des Menschen.

Das ist jedoch nur eine Seite des notwendig geforderten Nachdenkens in Anbetracht des schon Bedachten im Gedicht. Seine letzte Gültigkeit jedoch empfängt das Nachdenken nicht nur im Horizont der Zeit, sondern ebenso im Horizont von dem durch die Zeit gezeitigten Raum und der Sprache. Denn das, was Sein ist, ist immer Sein im Horizont von Zeit, Raum und Sprache. So wie die Zeit des Abends das Symbol der Zeit des Menschen war, wird Grodek zum stellvertretenden Ort einer untergehenden Welt, durch das, was vom Menschen gemacht worden ist, durch Waffen als dem Symbol des endgültigen und damit endzeitlichen Willen des Menschen.

Der Weltuntergang wird dann auch notwendig zum Untergang dessen, der sich anschickte, über die Welt mit einem letzten Machtwillen verfügen zu können. Denn so wie die Zeit ihres Wesens beraubt ist. wenn der Mensch sich zum Herrn der Zeit erheben will, so auch die Welt, in ihrer endgültigen Herstellung durch den Willen des Menschen. Das, was durch den Menschen nicht gemacht wurde und auch nicht gemacht werden kann, Zeit und Raum, wird durch das, was durch den Menschen in Zeit und Raum gemacht wurde, des Wesens beraubt. Daß Zeit und Raum - obgleich vom Menschen nicht gemacht -jetzt ihres Wesens beraubt sind, das liegt aber einzig am Menschen.

Die wesentlichen Stätten einer in ihrem ursprünglichen Sinn sich zeigenden Welt und ihres tragenden Grundes sind im Gedanken des Dichters "die herbstlichen Wälder", "die goldenen Ebenen" und "blauen Seen". Es sind wesentliche Orte, weil sie die wesentlichen Stätten ereignishafter Erfahrung des Seins und somit wesentliche Orte des Aufenthalts sind. Ihr tragender Grund - ontologisch verstanden - ist nun in eine negative Ontologie verkehrt. Waren ursprünglich die Wälder Orte des verborgenen Dunklen, die Ebenen Orte des Weiten und Offenen und die Seen Orte der Tiefe und des Grundes, so erweisen sich jetzt diese Orte der ursprünglichen, wesentlichen Erfahrung von Sein oder des Seienden im Ganzen als Orte. die in der sich ankündigenden Endzeit den tödlichen Waffen ausgeliefert sind. Sie sind nicht mehr jene wesentlichen Orte der Erfahrung von Sein als das verborgen Dunkle, das Weite und Offene oder das Tiefe und Gründende, vielmehr sind sie vom Symbol des menschlichen Machtwillens - den Waffen - durchstimmt und offenbaren deren ganze Destruktivität jener Orte, an denen sich der Mensch wesentlich aufhalten könnte. Der Klang der Wälder, der Ebenen und Seen ist übertönt von dem, was der Mensch mit ihnen macht. Nicht der Mensch hält sich an diesen Stätten auf, um auf den verborgenen Klang und damit auf die Sprache dieser Orte zu hören, sondern - umgekehrt - er ist es, der mit seiner Sprache und mit seiner Stimme, der Klang der Waffen ist, die Stimme des menschlich Eigenen - verfügend die Stimme und Gestimmtheit dieser Orte übertönt. Die Stimme des Verborgenen, des Offenen und des Tiefen ist damit verstummt. Die Wälder, Ebenen und Seen sprechen nicht mehr aus sich selbst, sie sind Zeichen der Endzeit geworden.

Selbst die Sonne rollt "düsterer" über diese Orte. War sie ursprünglich Symbol schenkender Helle und Wärme, des Lebens überhaupt, ja sogar des Göttlichen, so hat sie jetzt aufgehört, dies weiterhin zu sein. Nun ist es Abend geworden; die wesentlichen Orte sind vom Machtwillen des Menschen übertönt und nicht mehr Orte seiner wesentlichen Erfahrung, über die nun zuletzt die Sonne nicht mehr zieht, sondern düstrer rollt. Das Düsterwerden der Sonne ist nun ihr Sein; das Göttliche entzieht sich in dieser Zeit und an den Orten, die nun vorn Menschen ausschließlich beherrscht sind.

Mit dem Entzug des Göttlichen dringt nun ein neues Moment in die Erfahrung der vom menschlichen Machtwillen und darin aus ihrem ursprünglichen Wesen getretenen Welt - sie war im Horizont von Zeit und Raum begegnet - ein Drittes: die Dimension des Göttlichen. Für unseren Zusammenhang heißt dies: Immer wenn Endzeit ist und wenn die wesentlichen Orte des Aufenthalts ihres Wesens beraubt sind, dann entzieht sich auch das Göttliche.

Göttliche entzieht, dann ist Endzeit und verstummen die Stätten des Verborgenen, des Offenen und des Tiefen. Das aber liegt am Menschen und an dem, was dieser gemacht hat: Waffen als Symbole seines verfügenden Machtwillens in dieser Zeit und dieser Welt und vielleicht als das Gesicht dessen: was nun endgültig sein Eigenes ist.

Diese Situation bleibt aber nicht ohne Folgen für den Menschen. Der Mensch nämlich, der in den ersten Zeilen aus seinem Machtwillen heraus der Handelnde war, hat nun nichts mehr zu tun. Der Gedanke des Dichters beschreibt die Situation des Menschen, der sich sein eigenes Verhängnis geschaffen hat als von der Nacht umfangen in der Gestalt sterbender Krieger. Die Nacht, die den Menschen umfängt, entbirgt die Ontologie der Negation. Die Nacht, die den Menschen umfängt, ist wiederum Zeit, die jetzt aber letzte Zeit und Unverfügbarkeit geworden ist. Noch einmal: Ontologie der Negation. Denn war es zu anderen Zeiten so, daß das "Umfangende" der Morgen war oder der Mittag, so ist es nun die Nacht. Endgültige Zeit. Die Zeit selbst ist an ihr Ende gekommen. Darin ist sie Endzeit geworden. Die Sonne ist düstrer geworden, die Orte und Stätten der wesentlichen Erfahrung sind stumm, der Himmel verdunkelt sich, aber alles ist durchstimmt von der Stimme des menschlichen Machtwillens. Der Mensch selbst ist nun der Logik dieser Endzeit überliefert. Wohl vermochte er einst Verfügender zu sein und darin die Zeit in Endzeit zu zwingen. nun aber ist er selber umfangen von seinem Verfügungswillen. Die Zeit aber - nur scheinbar dem Menschen überantwortet - überantwortet diesen nun ihrerseits an die von ihm bewirkte Zeit: die Zeit des Willens die suggeriert, etwas vermögen zu können, ja, alles zu vermögen, entlarvt nun ihren eigenen Widerspruch im Umfangensein ihrer selbst durch das, was sie glaubte, selbst umfangen zu können. In dieser tragischen Ironie zeigt sich das Ende und der Umschlag des menschlichen Machtwillens in eine unausweichliche Gegenbewegung. Der Tod ist keine Möglichkeit, sondern das Ende aller Möglichkeit und allen Vermögens. Die Aporie der Macht drückt sich aus in der Möglichkeit des Unmöglichen, das auf sie selbst zurückschlägt. Der Tod ist das Wesen der Zeit, wenn das Sein alles Seienden Macht ist.

Der Mensch als Krieger - Ausdruck seiner Macht - ist deswegen von der äußersten Möglichkeit dessen, was er vermag, umfangen: nämlich vom Tod.

Waren bisher die Dimensionen von Zeit und Raum Auslegungshorizont des menschlichen Verfügens und seines Machtwillens, so fügt sich nun eine dritte Dimension unausweichlich an: die Sprache. Sie bildet jenen Horizont, indem sich diese Widerfahrnis ausspricht. Wo aber in der Endzeit die Welt nicht mehr Welt ist, der Mensch nicht mehr Mensch und Gott nicht mehr Gott, dort vermag auch die Sprache nicht mehr zu sprechen, und die Ontologie der Negation zeigt sich als das Ende der Sprache. Im Gedanken des Dichters ist dies im Bild der wilden Klage der zerbrochenen Münder ausgedrückt.

Die Klage ist die Sprache der Endzeit. Sie ist insofern eine wesentliche Form des Sprechens, da sie neben dem Dank, der Bitte und dem Lob eine der wesentlichen Formen menschlichen Sprechens ist. Was sich in der Klage ausspricht und damit in dem, der klagt, ist die sich aussprechende Endzeit selber. Die Klage ist der Schrei, daß Endzeit ist. Sie ist darüber hinaus sogar wilde Klage, weil sie aus dem Entzug des Ganzen spricht. Sie ist zugleich ziellos, ohne Grund und Horizont, ohne Partner, und in diesem Sinne eigentlich ohne Worte, weil es nichts mehr zu sprechen gibt. Die Klage als Sprachform ist somit Anzeige, daß es jetzt in der Endzeit auch Ende ist mit der Möglichkeit, überhaupt noch sprechen zu können, denn die Münder sind für immer zerbrochen.

Im bisherigen Nachdenken offenbarte sich der Zusammenhang von Welt, Mensch und Gott als Ontologie der Negation, in der - wenngleich nicht ausgesprochen - die Frage nach dem Grund verbürgt ist. Die Frage nach dem Grund aber ist zuallererst die Frage nach Gott als dem Grund aller Zeit, aller Welt, des Menschen und seiner Sprache. Die Gedanken des Dichters geben auf die Frage nach dem Grund keine Antwort. Vielmehr offenbaren sie alles, was ist, und so, wie es ist. So wie der bisherige Gedankengang gezeigt hat, daß der Mensch nicht ohne den Horizont von Zeit, Raum und Sprache sein Dasein leben kann, so sind umgekehrt diese Horizonte ohne ihn nicht möglich. So wie das Gegründete nicht ohne seinen Grund ist, so ist auch der Grund nicht ohne das Gegründete. Entsprechendes gilt auch für die Endzeit. In der Ontologie der Negation wurde offenbar, daß im Horizont von Zeit, Raum und Sprache alles am Menschen liegt, ja sogar die Weise, wie das Göttliche sich zeigt. Dieses Sichzeigen ist nun end-gültig und liegt nicht mehr am Menschen.

Die Klage, von der bereits die Rede war, schreit um dessentwillen, was nicht mehr ist. Die Sprache selber zeigt, daß die Klage insofern nach dem schreit, was nicht mehr ist. Damit ist sie der Schrei und zugleich Ruf nach Erlösung aus dem "Nicht mehr". So wie die Beter der biblischen Psalmen die Rettung des Volkes Israel aus der Gefangenschaft herbeisehnten, so ist die Klage der sterbenden Krieger der Schrei nach Erlösung in der Endzeit des Menschen. Es ist der Schrei nach einem neuen Morgen angesichts der Nacht von Grodek, der Schrei nach den verlorenen, gegründeten Orten, die sich in der Ontologie der Negation als versunkene Orte des Offenen, Verborgenen und Tiefen erwiesen, und es ist der Schrei nach der Helle und Wärme jener Sonne, die ihr Wesen in der Ontologie der Negation als verborgenes Wesen entbarg. Nach Grodek gibt es keine Rückkehr mehr und ebenso keine Hoffnung. Es gibt kein Zurück mehr, wenn die Endzeit ihre eigene Logik der Endgültigkeit zeitigt. Doch - so fährt der Gedichttext fortsammelt sich das Blut stille. Das vergossene Blut der Krieger von Grodek ist die Umkehrung und Negation des vergossenen Blutes Jesu, dessen vergossenes Blut Anfang einer neuen Zeit, eines neuen Menschen war, der aus seinem Grund leben kann. Das vergossene Blut der Krieger von Grodek ist nicht Zeichen der Hingabe an das Göttliche, sondern dessen Verweigerung. In Grodek ist der Mensch dem Menschen geopfert. Sein Opfertod ist Zeichen der Hingabe des Menschen an den Willen des eigenen Selbst, jenen Willen, der als Machtwille die Ontologie der Negation allererst ermöglichte. Danach zieht Schweigen ein, und den Jubelschrei des Ostermorgens wird es nicht geben. Der Ort der Trauer bleibt einsam und still, weil auch Gott schweigt. Und es gibt ja auch nichts mehr zu sagen, weil Gott schweigt. Symbol für diese Totenstille ist die mondne Kühle. Symbol insofern, weil der Mond selbst ein Gestirn ist, von dem kein Leben ausgeht. Er empfängt sein Licht von außerhalb seiner selbst. Deshalb ist er in Grodek an die Stelle der Sonne Deshalb ist er in Grodek an die Stelle der Sonne getreten. Und so wird die von der Gottheit verlassene Welt kühl.

Das rote Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt, ist dennoch möglicherweise im Denken des Dichters der Gott selber. Damit aber wäre - und darin zeigt sich die neue Logik - der Ort der endgültigen Trauer zugleich der Ort der Gottheit selber, aber als abwesender, und damit der Ort des Nichts. Aber dieser Gott ist bezeichnenderweise ein zürnender Gott. Gottes Zürnen ist Gottes Reaktion auf den Menschen und darin Handlung, nicht bloße Befindlichkeit. Das Zürnen ist Antwort auf das, was der Mensch getrieben hat mit seiner Welt und seiner Zeit. Mit dem Gedanken des schweigenden und zürnenden Gottes ist die Ontologie der Endzeit an ihrem Ende.

Wir sind mit dem Gesagten noch nicht ganz am Ende des Gedankengangs, so wie er vom Dichter gedacht ist, wohl aber an einer entscheidenden Stelle und Wende zugleich angelangt. Denn ging bisher das Nachdenken den Gang bis hin zum Ende aller Zeit, so schlägt nun das Denken des Dichters selbst aus dem bisherigen Geschehen um in die Denkstruktur und in die Sprache des Mythos. Und so, sagt jetzt das, was ist, der Mythos selbst. In seiner Mitte steht die Gestalt der Schwester als apokalyptischer Engel. "Unter goldenem Gezweig der Nacht und den Sternen" schwankt der Engel auf seinem weglosen Weg. Aber - so können wir sagen - der Engel schwankt grüßend. Als Engel aber ist und bleibt er, was er immer schon war: Wort und Bote der Gottheit. Gesegnet im Gruß des Engels sind am Ende auch die blutenden Häupter. Dieser Gruß ist für sie nicht die Anzeige einer neuen Hoffnung, wohl aber sind sie geborgen in der dunklen Nacht des Kosmos. Die bergende Nacht des Kosmos ist - so wird gesagt - von leisem und dunklem Gesang durchstimmt. Aber dieser Gesang ist der Zeit enthoben. Was in ihr tönte, ist mit dem Klang der Waffen an sein Ende gekommen. Was bleibt, ist die Trauer. Mehr noch: eine "stolzere Trauer". Die stolzere Trauer ist die Trauer um die vergangene Zeit, so auch die Trauer um den Menschen und seine Zeit, in welcher er sich von seinem Grund losgesagt hat. Diese Trauer steht jenseits aller Zeit. Sie stimmt ein in die Dunkelheit des Kosmos und des Seins, in deren Trauer, sie ist der menschliche Gesang zum Klang der "dunklen Flöten des Herbstes". Und so ist sie noch umfangen vom Gruß des Engels.

Der Ort aber, an und auf dem das Ganze des Menschen versammelt ist und dargebracht wird, ist der Altar. Und dieser Altar ist nicht aus Stein, er ist aus Eisen, vom Menschen gemacht wie alles in Grodek. Der Altar ist ebenso wie auch die Waffen Gemächte des Menschen.

Die Gedanken schließen mit dem Gedachten in den beiden letzten Zeilen des Gedichts. Wurde die "Flamme des Geistes", das Verbindende zwischen Gottheit und Mensch, am Anfang aller Zeit durch die Hoffnung genährt, durch die Möglichkeit von Zukunft und Zeit, so nun durch den Schmerz, durch die Unmöglichkeit von Zukunft und Zeit, symbolisch angesagt in den "ungeborenen Enkeln".

Die "Flamme des Geistes" ist aber nicht nur das Verbindende zwischen Gottheit und Mensch, sondern ist die Gottheit selber.

Dieser Geist des Anfangs - der Geist Gottes - der über den Wassern schwebte und auch über dem Chaos und ebenso am Anfang aller Zeit dem Menschen von Gott eingehaucht wurde, war getragen und genährt von der Gewißheit, daß es so, wie es war, gut war. Gott selbst sah, daß es gut war. Jetzt - in Grodek - ist es anders. Jetzt ist es die Gottheit selber, die einstimmt in die Gestimmtheit des Kosmos. Und so bleibt am Ende aller Zeit eines: die Einheit und Vereinigung von Gott, Mensch und Kosmos, jetzt aber im Schmerz und in der Trauer. Damit schließt das Nachdenken über das schon Gedachte in der Hoffnung, die Perspektiven für das noch zu Denkende freigelegt zu haben.

Hier setzt der Künstler Bunsen erneut an. Leben als Negation des Todes - Kunst als Negation der Lüge. Das ist der von ihm selbst und an ihn selbst gerichtete Auftrag des Künstlers. Denn so, wie der Tod nur im Bezug zum Leben als dessen Vollendung erfaßt werden kann, erfährt nach Bunsen in der Vollkommenheit der Kunsthandlung diese erst ihre Vollendung. Das schon anfangs erwähnte zeichenhafte Verfügtsein von Zeit und Raum ist die lebendige Mitte im konkreten Schaffen des Malers. Aber anfanghaft. Denn dort, wo Zeit und Raum ihr zugefügte Verengungen erweisen - eine Enge des menschlichen Verfügenwollens über Zeit und Raum, stiftet das Bild Grodek dazu an, diese Engführung nicht kritiklos anzunehmen. Gebt Zeit und Raum den ungeborenen Enkeln. Das ist die Botschaft des Bildes. Mehr noch: Das Bild Grodek ist Mahnung und unmißverständlicher Aufruf. Mahnung und Auf ruf im Ringen um das Humanum als Regulativ für eine weltbejahende und vom Schöpfergott gewollte zukünftige Welt. Der Ruf beruft aus dem Indikativ in den Imperativ. In jenen Imperativ, der die Lüge als Voraussetzung für Sterben und Tod entlarvt. Jene Lüge, die lebensfeindliche Haltungen ebenso wie die unbedingte Subjektivität des Willens zur Macht pervertiert.

Bunsens Kunst - hier im besonderen sein Grodek-bild - ist somit aus der Entschiedenheit heraus zu verstehen, den gängigen, salonfähigen Kunstbetrieb aus dem Verantwortungsbewußtsein eines Künstlers heraus zu stören und unter seinen Betreibern Unruhe zu stiften. Denn so wie im Dichterwort "Grodek" dem Menschen die Zeitigung der Zeit aus seinem Machtwillen heraus mißlang, so scheint dies bisweilen auch dort zu geschehen, wo die Zeitigung der Zeit der Kunst nur einigen wenigen zu obliegen scheint. Insofern diese aber nichts anderes vermeinen als gesellschaftliche Konventionen sanktionieren zu müssen, so lange braucht es den Mut sowohl des Künstlers selbst und ebenso auch notwendig die Zusage anderer an den Künstler, der seinen Auftrag im konstruktiven Mitgestalten an einer besseren Welt und - wenn überhaupt noch möglich - an einer besseren Zukunft für die noch ungeborenen Enkel sieht.

Somit zeigt sich noch einmal, was eingangs als eine zweifache Richtung für das Bedenken und Sehen des schon Gedachten und das im Bild Erfahrbare gesagt wurde. "Grodek" ist nicht nur ein ausgezeichnetes Gedicht, das das Verfügtsein von Zeit und Raum und Sprache zeichenhaft ausspricht. Vielmehr ist "Grodek" jetzt - durch Bunsens Bild - zum unnachgiebigen Imperativ für ein Weltsehen und Weltverstehen geworden, dem allem voraus und grundlegend bewußt ist, daß - sofern es überhaupt noch eine Zukunft für diese Welt gibt - diese Zukunft nur eine Zukunft für alle oder aber gar keine sein wird: die Zukunft der ungeborenen Enkel.

Thomas Schreijäck 1988

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