Die Kreuzverhüllung 1999 (Fotos Karin Mueller Leonberg)
In einer kleinen Zeitungsmeldung wurde von einer Gruppe Jugendlicher berichtet, die, nachdem sie miteinander gezecht und gefeiert hatten, einen aus ihrer Gruppe mißhandelten. Das grausame Spiel begann, indem er aufgefordert wurde, seine Kleider herzugeben. Und dann wurde es gewalttätig. Einem die Kleider wegzunehmen, hat etwas mit Macht und mit Demütigung zu tun. Auch wenn in unserer Gesellschaft das Nacktsein nicht mehr tabu ist, gibt es doch Situationen, in denen das Ablegen der Kleider einen Menschen bloßstellt und ausliefert.
Paradiesisch ist es, wenn es, wie am Anfang, möglich wäre, voreinander ohne Scham, ohne Angst vor Mißbrauch nackt sein zu können: Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander." (Gen. 2,25) - so steht es am Anfang der Genesis. In dem Text, den wir in der Lesung heute gehört haben, zerbricht diese Selbstverständlichkeit.
Es ist furchtbar gewesen sein, was zwischen Adam und Eva vorgefallen ist! Sie, die sich bisher ihrer Nacktheit nicht einmal bewußt waren, und sich ihrer schon gar nicht einmal schämten, "erkannten", daß sie nackt waren", erschraken darüber und bedeckten sich mit Feigenblätter voreinander Plötzlich mußten sie sich vor Gott, voreinander und vor sich selber verstecken.
"Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? - so fragt die Schlange listig. Und setzt dagegen: "Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse." (3,5)
Natürlich dürfen sie von allen Bäumen des Gartens essen nur der eine in der Mitte des Gartens ist ihnen versagt. Aber indem Eva diese Frage der Schlange zulaßt, die Mißtrauen sät, hat die Einheit zwischen ihr und Gott bereits einen Riß bekommen. Sie muß sich und Gott verteidigen, muß erklären und rechtfertigen. Plötzlich gibt es eine Verlockung in ihr, die sie bisher nicht gekannt hat." Da sah die Frau daß es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, daß der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte klug zu werden. (Gen 3,6)
Der Mensch fallt mit dieser Geschichte heraus aus der vertrauensvollen Einheit mit Gott, indem er daran zweifelt, daß es Gott gut mit ihm meint und selber festlegt, was gut ist. Doch Indem er versucht sein Leben von Gott abzukoppeln und selber wie Gott zu sein erkennt er nichts als seine armselige Nacktheit beginnt sich zu schämen und muß sich verhüllen. Vielleicht sind wir hier an der ursprünglichsten Bedeutung des Verhüllens.
Wenn einer sein Nacktsein und seine Armseligkeit vor sich selber und dem andern nicht aushält, wenn er sich so, wie er ist, nicht zeigen kann, wenn er sein Vertrauen vor dem andern verloren hat, wenn er sich für sein Tun und für sein Dasein schämt, dann muß er sich verhüllen.
Es ist anstrengend, sich voreinander verbergen zu müssen, es kann befreiend sein die Hüllen fallen lassen zu dürfen, die Hüllen von Angst und Selbstzweifel, aber auch von Absicherung und Stärke. Für Adam und Eva sind die Hüllen, die sie sich mit Feigenblätter notdürftig zurecht machen, Ausdruck ihrer Scham und ihrer Suche nach Schutz. Gleichzeitig beginnt damit die leidvolle Erfahrung, daß ihnen künftig Gott verhüllt sein wird. Verhüllung wird zur Strafe für den sündigen Menschen. Sie wirft den Sehenden auf sich selbst zurück nimmt ihm das Bild seiner Verehrung weg, verhilft es, wenigstens für eine gewisse Zeit vielleicht auch für immer.
Der mittelalterliche Brauch der Fastentücher, mit denen der Altarraum verhüllt wurde, hat etwas zu tun mit diesem schmerzlichen Aspekt des Verhüllens Zwischen Gott und dem Menschen, zwischen dem Allerheiligsten und dem Profanen, zwischen dem geheimnisvoll Verborgenen und dem sichtbar Offenbaren ist eine Trennung Sichtbar wird diese Trennung in der Ostkirche durch die Bilderwand, hinter der das Allerheiligste verborgen ist, im Westen durch das Hungertuch, das wahrend der Fastenzeit aufgehängt wurde. Es wurde im allgemeinen am Aschermittwoch oder am ersten Fastensonntag aufgehängt. Die Zeit seiner formlosen Fortnahme war ursprünglich wohl der Abend vor dem Gründonnerstag, meist nach der Komplet.
Der Gedanke, daß Gott unserem Blick unzugänglich sei und wir unwürdig, ihn zu schauen, fand in der Verhüllung der Kreuze und Bilder noch eine besondere Zuspitzung In der Zeit des Leidens bleibt dem Menschen auch Christus in seiner Gottheit verborgen. Andere sahen im Verhüllen der Kreuze eine Erinnerung an die Erniedrigung des Herrn und die Absicht, sein Bild unserem Herzen um so tiefer einzuprägen. Schließlich erinnert das Tuch auch an die Vorhänge im Tempel, von denen einer in der Todesstunde Jesu zerriß.
Mit der Geschichte von Adam und Eva, ihrem vertrauensvollen Nacktsein und der Notwendigkeit sich zu verhüllen, hat eine Geschichte zwischen Gott und dem Menschen begonnen, die Immer wieder um Schau und Verhüllung kreist. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr begreife ich, wie Verbergen, Verhüllen einerseits und Zeigen, Offenbaren andererseits ineinander übergehen und manchmal ist gerade das Verhüllte ein Ausdruck für die Gegenwart Gottes. So ist das Fleisch, das menschliche Leben für den Sohn Gottes Hülle gewesen, die seine Gottesherrlichkeit verbarg, aber auch die Gestalt, in der er sich den Menschen offenbarte. Einmal ist es Gott, der sich verbirgt, dann ist es der Mensch, der sein Gesicht vor ihm verhüllt. So verhüllte Mose sein Gesicht als Jahwe ihm im Dornbusch begegnete und Elija hüllte sein Gesicht in einen Mantel, als Jahwe ihm erscheint. Auf dem Tabor werfen sich die Junger nieder, weil sie den Lichtglanz Christi nicht aushalten.
Die Verhüllung soll vor dem Schrecken und der gewaltigen Große Gottes schützen. Wir brauchen die Verhüllung vor Gott und voreinander, aber wir leiden auch an ihr und sehnen uns danach, unverhüllt eines Tages schauen zu dürfen, von Angesicht zu Angesicht.
Wir brauchen vielleicht gerade heute Zeiten der Verhüllung weil so vieles enthüllt, bloßgelegt und ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt ist.
Wir brauchen die Verhüllung, weil wir uns mit der verborgenen Gegenwart Gottes auseinandersetzen müssen. Die Verhüllung verbirgt nicht nur, sondern verändert oder intensiviert die Wahrnehmung. Sie laßt mich Gewohntes wieder neu entdecken und sehen. Vielleicht weckt sie in mir auch wieder die Sehnsucht, schauen zu dürfen.
So hat die Verhüllung eine Bedeutung im Blick auf das, was verhüllt wird. Sie hat auch eine Auswirkung im Blick auf die Gemeinschaft: Gemeinsam vor dem Geheimnis zu stehen, verändert den Bezug untereinander. Die und der einzelne bezieht sich nicht mehr nur für sich selber auf das Geheimnis. Das gemeinsame Dasein vor dem Verhüllten gibt der Gemeinschaft, mit der ich mich vor der erhüllung erfahre eine neue Bedeutung.
Die Verhüllung ist auch wichtig für mich als einzelnen: Vor dem Verhüllten nehme ich ich selber neu wahr. Die Selbstverständlichkeit, mit der mein Blick in den Altarraum, auf das Kreuz, auf die Kreuzwegstationen gegangen ist, wird gestört. Genauso meine Nachlässigkeit, die das Selbstverständliche vielleicht gar nicht mehr wahrgenommen hat. Ich werde mehr als sonst auf mich selber zurückgeworfen, möglicherweise wird mir bewußt, daß ich das, was Ich schon viele Jahre gesehen habe, gar nicht wirklich wahrgenommen habe. Ich erschrecke über meine Achtlosigkeit.
Wir brauchen die Verhüllung und doch leiden wir auch an ihr. Und ich denke, daß der Wunsch des Menschen zu schauen, am Ende mächtiger ist als die Verhüllung. Seine Sehnsucht, Gott unverhüllt, von Angesicht zu Angesicht sehen zu dürfen, sich selber offen zeigen zu dürfen, nackt und schutzlos, ist vielleicht die Sehnsucht nach jenem paradiesischen Zustand, in dem der Mensch einst sein durfte. Auf diesem Weg zu einem Dasein, in dem wir ohne Hülle, ohne Scham und ohne Schuld sein dürfen, konnte es unsere Aufgabe sein, uns selber und unsee Beziehung zu Gott an der Verhüllung neu zu erfahren.
Die Installation hier in der Kirche lädt uns dazu ein, aber sie durchbricht auch unsere gängigen Vorstellungen von Verhüllung. Ist jede Verhüllung in sich schon ambivalent, so ist es die diese Ausführung hier im Kirchenraum erst recht. Unser Blick ist irritiert, weil er kein Tuch als Verhüllung findet, sondern einen großen Stein. Ich denke, daß es für jeden einzelnen ein Stuck Arbeit braucht. sich mit diesem Stein als Verhüllung auseinander zu setzen. Mir fällt dazu eine Szene im Evangelium ein, in der Jesus sich verhülltes als einige Menschen Steine aufhoben. Im Johannesevangeliunn (8,59): "Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen Jesus aber verbarg sich und verließ den Tempel." Vielleicht fällt Ihnen etwas anderes dazu ein.
Irritiert ist unser Blick auch, weil das Kreuz nicht für alle verhüllt ist, sondern nur für einige. Verhüllt ist es, wenn wir uns in einer bestimmten Position im Mittelgang befinden. Für manche von ihnen ist es zum Teil verhüllt. Für manche ist es ganz frei sichtbar - und doch begegnet es Ihnen innerhalb des Rahmens in einer ganz neuen vielleicht befremdlichen, vielleicht anziehenden Weise. Unser Blick wird verhüllt und gleichzeitig muß er sich scharfen Vielleicht eicht könnte es die Aufgabe dieser Fastenzeit sein, den eigenen Platz im Dialog mit der Verhüllung zu finden. Wieviel an Verhüllung entspricht gerade meinem Weg, wieviel an Enthüllung verkrafte ich. Was ist in meinem Leben verhüllt und will sich gerne zeigen dürfen? Wie wichtig ist das Äußere, sichtbare für mich, wie offen, empfänglich bin ich für das, was hinter der sichtbaren oder hinter der verhüllten Materie ahnen laßt? Nehme ich etwas von der verborgenen Wirklichkeit wahr und berührt sie mich?
Unsere Auseinandersetzung, unsere Not, unser Leiden geschieht am Baum der Erkenntnis, dort geschieht auch die Versuchung, der Eva nicht widerstehen konnte. Der Baum der Erkenntnis ist jedoch nur, wie der jüdische Sprachforscher Friedrich Weinreb sagt die Umhüllung für den Baum des Lebens. Für uns ist es wichtig durch die Umhüllung hindurchzukommen, denn unsere Sehnsucht gilt dem Verborgenen, dem Baum des Lebens.
Vielleicht gelingt es in diesen Wochen, an der Verhüllung dem verborgenen Gott, uns selber und einander neu zu begegnen, ein Gespür zu bekommen, wie nackt und sehnsüchtig unsere Seele ist und darauf zu vertrauen, daß wir uns vor Gott zeigen dürfen, und daß er uns wieder neu zum Baum des Lebens fuhrt.