Die Kreuzverhüllung 1999 (Fotos Karin Mueller Leonberg)
"Aber er hat ja gar nichts an!" rief das kleine Kind in der Menschenmenge, die vor dem Kaiser versammelt war. Und der Kaiser wurde rot vor Scham, denn er merkte erst jetzt, daß er da den Schneidern auf den Leim gegangen war, die da etwas von unsichtbaren Tüchern geredet hatten, aus denen sie ihm eine kostbare Hülle nähen würden. Ich erinnere nur deswegen an dieses schöne Märchen, damit Sie nicht wie die Menschen vor der erlösenden Bemerkung eines kleinen Kindes an sich selbst zweifeln müssen oder gar denken, hier in diesem Raum wollten wir Ihnen einen Bären aufbinden, so zum Beipiel einreden, das Kreuz, was (fast) alle sehen können, sei verhüllt und nicht sichtbar. Für diejenigen, die von ferne kommen, mag hilfreich sein, zu erfahren, was genau sich in diesem Raum verändert hat. Die vier Künstler: Gisela Berger, Frederick Bunsen, Ute Renz und Wlodek Szwed, haben vier große Leinwandsegel bemalt und hier im Raum aufgehängt. Einige Tage später folgte von Frederick Bunsen diese zentrale steinförmige Raumskulptur und zuletzt im Altarraum der große schwarze Holzrahmen, der um das gewohnte Altarkruzifix geschlossen wurde. Wir haben es hier nicht mit einer üblichen Kunstausstellung zu tun, und auch derjenige irrt, der meint, es handele sich hier im üblichen Sinne um die berüchtigte sogenannte kirchliche Auftragskunst. Zu Beginn unseres, im übrigen noch nicht abgeschlossenen, Projektes hat tatsächlich niemand in irgendeiner dieser Kategorien gedacht. Denn das unmittelbare Erleben des Raumes stand am Anfang, das Erleben des Raumes, das Frederick Bunsen - wohl über Jahre - hinweg (denn er lebt seit Jahren in dieser Kirchengemeinde) motiviert hat, als Künstler einige Fragen zu stellen, Fragezeichen aufzurichten auf die Art und Weise, wie es über den Weg künstlerischen Wirkens möglich ist. Auf künstlerische Weise Fragezeichen aufzurichten heißt aber zweierlei: erstens zunächst hinzusehen, als sei es das allererste Mal, und zweitens schließlich Hand an eingeschliffene Sehgewohnheiten zu legen. So etwas kann geschehen über den Weg einer Störung, der Irritation, ja der Veränderung und der Schöpfung von ungewohnten Zusammenhängen. Erst mit der Irritation verlassen wir alte Sehgewohnheiten. Wichtige, ständig gegenwärtige Vorgänge in unserem Leben, Kräfte, die uns am Leben erhalten, fallen dann nicht mehr so belanglos durch die Pupille auf die Netzhaut, um danach vielleicht allenfalls noch der Motorik und unsereren Alltagsreflexen überlassen zu werden. - Im Gewohnten gestört werden, ist sehr ähnlich dem "Zum-allerersten-Mal-Hinsehen", dem Schauen, als gebe es erst jetzt diesen einen Augenblick, hier und jetzt, in dem ich die Strukturen hinter den Dingen wahrnehme, die Energie ahne, die in der Spannung, im Dialog einzelner Elemente zueinander und dieser wiederum zum Ganzen liegt. Die Künstler arbeiten darin unter anderem mit den Mitteln der Malerei, der Skulptur. Und hier in Winnenden haben sie in besonderer Weise sogar mit der Architektur des Raumes gearbeitet.
Wenn wir nun bei den fast aufgebrauchten Sehgewohnheiten sind, die wir für gewöhnlich unserem Kleinhirn überlassen, dann sollten wir gerade als Christen ganz ehrlich sein: Was gibt es "Normaleres", "Unsichtbareres" für unser Großhirn, als das Kreuz in der Kirche, das heißt in einem Raum, in dem man sich auskennt? Diese unsichtbar machende Normalität hat, das sei nur angemerkt, eine Vorgeschichte, die älter ist als das Christentum selbst. Lange vor diesem brutalen, skandalösen Tod, vor diesem im Glauben der Christen einmaligen und irreversiblen Augenblick der Hinrichtung Gottes durch die Menschen, und fast genauso lange, bevor eben dieses Hinrichtungs-Kreuz zum Symbol für die den Menschen geschenkte Erlösungshoffnung wurde, lange davor schon war das Kreuz, und zwar in den verschiedensten Völkern der Erde, bereits ein geläufiges Ornament, ein dekoratives Muster, eines von vielen, mit denen man so sein alltägliches Leben schön macht, - sozusagen völlig normal. Das Problem mit den Sehgewohnheiten ist also uralt. Vielleicht - man weiß es nicht genau - war dies auch der Grund, weshalb man irgendwann, im Dunkel der liturgiegeschichtlichen Vergangenheit, vor über 1000 Jahren daran ging, den gewohnten Blick auf den Altar der Eucharistie, das gewohnte Zentrum des sichtbaren christlichen Heiligtums also, mit großen, überdimensionalen, manchmal gigantischen Tüchern zu verhängen. Man kann sagen, daß dadurch das Eigentümliche des christlichen Kultbaus, nämlich der Versammlungsort der Menschen mit Gott, eben exakt das Unterscheidende zum vorchristlichen Tempel (mit seiner Vorhalle, und der Cella, dem heiligsten Zentrum) für bestimmte Zeit, meistens in der Fastenzeit, manchmal ja auch nur in der Zeit von Gründonnerstag bis Ostern, schier außer Kraft gesetzt wurde. Worum es aber bei dieser vorübergehenden mysteriösen Inszenierung mit Sicherheit immer ging, zeigen die verschiedenen Bezeichnungen jener großen Tücher, deren ältestes erhaltenes aus der Zeit um 1300 übrigens völlig abstrakt ist, sich also in strenger Augen-Askese, im Augen-Fasten übt. Sie heißen "Leidenstücher", "Hungertücher", "S(ch)machtlappen" (niederdeutsch, wir kennen heute bezeichnenderweise noch das Wort Schmachten hauptsächlich im Zusammenhang unerfüllter Liebe!
Wir erfahren also, worum es damals ging, und auch heute geht. Es geht um die Vergegenwärtigung dessen, worüber ein Glaube an einen menschenfreundlichen Gott, der Glaube an ein geschenktes, den Tod überstehendes Leben jedes Einzelnen von uns gerne zu schnell hinweg eilt. Und gerade der katholischen Frömmigkeit wird ja oft vorgeworfen, viel zu schnell über das Leiden, das Sterben, den Tod Christi am Kreuz hinwegzueilen, mit dem schlichten Hinweis auf das nahe Osterfest, die ganze Erlösungstat des Christus. - Hinwegzueilen aber auch über die Grenzen der menschlichen Existenz überhaupt, über die oft doch so viel plausibler wirkende Erfahrung jedes Einzelnen von eigenem Leiden, von eigener Krankheit, und von der Bedrohung des eigenen Todes.
Diesen inhaltlichen Impuls haben die Künstlerinnen und Künstler in diesem Projekt "Kreuzverhüllung" angenommen, - nicht also so sehr die Form als vielmehr das Inhaltliche jenes Anliegen, mit dem die Kirche die sogenannte vorösterliche Zeit, die Fastenzeit, feiert, liturgisch inszeniert und damit bejaht: Es geht hier und jetzt um das Ernstnehmen der Erfahrung von Begrenztheit, von Verlust, von Tod, von der Trauer, und von der Erfahrung des Alleingelassen Seins.
Die Künstlerin Giesela Berger lebt in Winnenden. Sie hat in Darmstadt und Stuttgart Malerei studiert und bei den Bildhauern Michael Schützenberger und Georg Müller gelernt. Sie arbeitet sowohl mit Skulpturen als auch in der Malerei. So hat sie den gegebenen thematischen Impuls der historischen Fastentücher in ihrem Bild sowohl flächenkompositorisch wie in konkret erkennbarer, plastischer Spannung eingearbeitet. Schwarz, abgeschattete, steile, hochrechteckige Flächen stehen im Dialog mit unterschiedlich gestaffelten weiße Flächen. Menschenerinnerungen, Anthropmorphes in Form und Farbe, skulpierte, spannungsgeladene Anballungen bilden einen die Flächenkomposition überschneidenden Schwerpunkt. Der Mensch, gefangen und zugleich ausgestoßen zwischen einem Dualismus zweier Welten? Es ist vielleicht das aktive und unbewegte Moment der Anspannung, des Willens, das Element der ruhenden Kraft. Das Bild hat etwas von einem Ringen, das letztlich in der Schwebe zu bleiben scheint. - Sebsttranszendenz, wie sie in der gelebten Askese, im Ringen mit dem eigenen Körper, höchst aktiv vollzogen wird.
Frederick Bunsen, ist in Texas geboren und in der Nähe des ewigen Eises in Alaska aufgewachsen. Von seinem Universitätsprofessor wurde er in den siebziger Jahren im Rahmen eines akademischen Austauschprogramms nach Deutschland gesandt. Nach einem Studium an der Kunstakademie am Weissenhof (Prof. Peters und Rudolf Haegele), in dem er sich bereits intensiv mit dem Phänomen des Sterbens und des Todes auseinandersetzte (Reisen zu Friedhöfen in der Provence), hat er sich bald ganz der Abstraktion zugewandt. Wichtig war dabei anfangs die Auseinandersetzung mit dem Werk Giacomettis. Bunsen lebt seit über zwanzig Jahren in Winnenden. Er kann auf eine Vielzahl in- und ausländischer Ausstellungen zurückblicken und ist Zweiter Vorsitzender des Verbandes Bildender Künstler im Kreis Rems-Murr. Seit den achtziger Jahren beschäftigt er sich mit dem Interaktionspotential bildender Kunst, insbesondere mit kunst-soziologischen Zusammenhängen. Besonders verbunden ist er seinem Freund Niklas Luhmann (+1998). Ihm liegt viel am Disput über die Kunst. Auch deswegen war er bereits mehrfach an der Gründung verschiedener Künstlerforen und -gruppen maßgeblich beteiligt.
Das tiefe, großflächige Blau fällt wohl auch deswegen ins Auge, weil es in einem besonderen Komplämentärkontrast zu dem warmgelben Hintergrund des Altarraumes steht. Aber nicht nur in der farblichen, sondern auch gerade in der räumlichen Komplementarität wirkt es besonders als eine Art Bindeglied innerhalb des Ensembles der großen Flächen, die hier zu einem Raum verschmelzen.
Die Bildfläche wirkt prozesshaft, und wer weitere Bilder des international tätigen Künstlers kennt, weiß wie wichtig ihm der Vorgang selbst ist, bei dem seine Bilder entstehen. Das Prozessuale, also das, was das Tuch zu einem Dokument mit den Spuren eines tatsächlich stattgefundenen Geschehens macht, dasjenige was sich auf dieser Fläche "real" ereignet hat, wird besonders deutlich, wenn man genauer hinschaut. Fußspuren sind zu entdecken, und zwar nicht nur an den (wie er selbst sagt) "unfertigen" Rändern, sondern auch an den Stellen, wo das Blau, das Wasser (?), am tiefsten war. Erkennbar sind mehre Schichten dieser Spuren - zu unterst, fast unscheinbar, fast wie ein Kainsmal, ein dunkles Kreuz. "Auf dem Wasser wollte er immer spazierengehen" sagt Frederick Bunsen, und bringt dabei selbst das Bild seiner eigenen Taufe, des gefährlichen Ganges Israels durch das Meer, zur Sprache.
Ute Renz, ist seit 1996 freischaffende Malerin und arbeitet kunstpädagogisch bei der Städten Sindelfingen und Herrenberg. Sie hat in Nürtingen freie Kunst studiert und wirkt seit 1997 in Sindelfingen auch an Ausstellungskonzeptionen mit.
Wer sich auf dieses Bild einläßt, erkennt in den zarten, changierenden Nuancen, mit denen die wechselnden Farbschichten aufeinandergelegt sind, kleine, streng wiederkehrende Wiederholungen. Punkte und Linien sind zu einer Gesamtstruktur verworben, einem Rhythmus ähnlich, wie wir ihn in der Musik kennen, also in jener Kunst, in der das Element des Zeitlichen eine große Rolle spielt.
Takt und Zeithaftigkeit, hier in der Fälche geordnet, rhythmisiert, werden umgeben und durchtrennt von einem Farbelement, das so unbestimmt auf die Umgebung reagiert, wie es seit jeher als kostbar, als ewig und göttlich angesehen wird: Golden: Seit langer Zeit schon ist es eine Chiffre, ein Zeichen, für Zeitlosigkeit, für Ewigkeit, also in gewisser Hinsicht das Gegenteil zu dem, was sich in der Mitte des Bildes breitet.
Ute Renz hat zu dem Bild geschrieben, daß sie in der Zeit, als sie das Tuch malte, drei Nächte in der Woche Nachtwache bei einem Sterbenden halten mußte. Nachts zu wachen und tags die Kräfte für den Abschied sammeln zu müssen, haben, so sagt sie, ihre Wahrnehmung von Zeit und Diesseitsgefühl entscheidend verändert.
Wlodek Szwed ist geboren in Tschenstochowa und hat in Polen, in Krakau, bei Professor Markowska Malerei studiert. Er lebt und arbeitet als freischaffender Maler nach weiteren Studium an der Stutgarter Merz - Akademie in Schorndorf. Auch er kann auf eine Reihe von Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen zurückblicken. Es hängt nicht von ungefähr dem Tuch von Gisela Berger gegenüber, denn Wlodek Szwed arbeitet an ihm ähnlich mit großen Flächenkompositionen. Besonders aber changiert er mit den Grenzen dieser Flächenkomposition. Und mit der Auflösung dieser Grenzen ist auch eine Strukturierung der Flächen selbst gegeben. Graphische Qualitäten geben den Konturen eine eigentümliche Klangfarbe. Eine Vertikale ist als Weg erfahrbar, horizontale Flächenkomponenten erinnern an die Erfahrung des offenen Himmels. Das Bild transzendiert sich aber auf mehrfache Weise, einerseits korrepondiert es in der oberen blauen Fäche mit dem Tuch von Frederick Bunsen. Andererseits steht es ebenfalls im Komplementärkontrast zur Wandfläche hinter dem Altar und nimmt darüber hinaus in der vertikalen Überschneidung Elemente aus dem unmittelbaren Umraum auf (Kirchenbänke).
Um noch einmal auf das nicht verhüllte Kreuz zu sprechen zu kommen: Wer die Kirche durch das Mittelportal betreten hat, wird ja erst einmal gar kein Kreuz gesehen haben. Die unförmige, steinartige, geheimnisvoll und auch etwas bedrohlich im Zentrum des Raumes schwebende Skulptur stand im Weg. Wer dann im Mittelgang dennoch den verstellten und regelrecht verwehrten Weg zum Altarraum auf sich nahm, hat dann vielleicht erlebt, daß sich das Schwebende etwas dann durch die perspektivische Verschiebung langsam hob, und daß schließlich demjenigen, der den Mut hatte, sich unter das drückende Etwas zu stellen, der Blick auf das Kreuz frei wurde. Wenn Sie auf diesen Weg nicht verzichten, dann ist auch für Sie heute "Kreuzverhüllung" drin, wo "Kreuzverhüllung" draufsteht.
Das ist ein Grund, weshalb ich eingangs sagte, daß das Projekt eigentlich noch gar nicht abgeschlossen ist: Vieles hängt noch von Ihnen ab, und darin liegt eine gewisse, von Frederick Bunsen angestrebte Eigendynamik. Erwähnt sei abschließend: Es hat da bei den Vorbereitungen bereits eine solche Eigendynamik gegeben. Am Anfang hatte Frederick Bunsen vorgesehen, den Rahmen so mit einem Leinentuch zu bespannen, daß das Altarkruzifix zwar verdeckt, aber dennoch als eine Art Relief, hervortrete. Als dann aber die einzelnen Objekte hier im Raum zusammenkamen und alles mit einander anfing, in Beziehung zu treten, sprangen bei allen Helfern sozusagen "die Funken über". Es war plötzlich eine gedankenschöpferische Situation gegeben, fast wie damals, als ihnen "die Augen aufgingen". Es wurde dann hin- und her überlegt, und schließlich hat Herr Bunsen es zu dem Schluß geführt: Nein, wir lassen das Kreuz sichtbar.
Solch eine Dynamik des künstlerischen Geschehens, manchmal ist sie ja nicht so offensichtlich, sondern geschieht im Wahrnehmen und Denken der Betrachterinnen und Betrachter, nennen wir auch "Interaktion".
Vor wenigen Tagen hat Alfred Nemeczek, einst Redakteur des Hamburger Kunstmagazins "Art" in Hohenheim in Form eines Vortrages sich zu Wort gemeldet. Er meinte sich entschuldigen zu müssen, etwas als Fernstehender zur Frage beisteuern zu wollen, ob und weshalb sich die alten Kirchen immer mehr zu Museen entwickeln und die Museen immer mehr im Leben der Menschen hohheitliche Aufgaben der Kirchen übernehmen. Er hat am Schluß eine große gemeinsame Chance gesehen, und zwar in eben dieser Interaktion: "Interaktion von Kunst" vollende vielleicht das einzelne Kunstwerk - "Interaktion in der Kirche" vollende darüber hinaus den Menschen. Wenn da etwas daran ist, dann findet eine Kreuzverhüllung öfter statt, als wir ahnen, denn: Kann dann derselbe Mensch, wie er auch nicht mehrmals in ein und denselben Fluß steigen kann, mehrmals das eine Kreuz ansehen, ohne ein anderer geworden zu sein?
Abschließend eine Bemerkung von Paul Celan über das Verstummen, das jenes, was heute zum "Verhüllen" gesagt wurde, bündeln helfen kann, auch wenn es nur von dem kleinsten gemeinsamen Nenner der "Erzählungen" des Menschen in Wort und Bild handelt, dem Gedicht:
"Ein Gedicht zeigt eine Neigung zum Verstummen. Es behauptet sich am Rande seiner Selbst. Es ist einsam und unterwegs."