Oberlichtsaal Sindelfingen 12.03.2020.
Prof. Dr. Helge Bathelt bei der Einführung 12.03.2020.
Prof. Dr. Helge Bathelt bei der Einführung 12.03.2020.
Ohne Titel 1982, Öl auf Leinwand 150 x 150 cm
"Journal of a Journey". Eine Lebensreise, die hier in Beispielen seit 1982 dokumentiert ist. Es ist die Reise eines Künstlers auf der es Begegnungen gegeben hat. Mit anderen Zeiten und anderen Umständen. Beides - die Zeiten und die Umstände - haben zu Reaktionen geführt. Diese Reaktionen hat Frederick Bunsen in seinem Tagebuch fest-gehalten. In diesem Tagebuch sind Kunstwerke die Seiten. Zeiten und Umstände hat Bunsen dabei einem Prozess unterzogen. Diesen Prozess können wir beschreiben als Aufhebung eines Zustandes, als Überbietung bloßer Description zugunsten eines Substanziellen, das wiederum substanzielle Begegnungen des Betrachters möglich macht. Damit erschließen wir uns die besondere Eigenschaft dieser Kunst als einen andauernden Prozess der Verdichtung.
Dirk Becker ist Soziologe. Er lehrt an der Universität Witten/Herdecke. Er hat sich in seinem Essay "Die Spinne bei der Arbeit" zur Kunst Bunsens geäußert. Er schreibt:
"Anfang der 1990er Jahre habe ich mit George Spencer-Brown ein Telefongespräch geführt. Er erzählte mir, er habe bereits im Alter von drei Jahren versucht, herauszufinden, wie eine Spinne vor dem Fenster seines Kinderzimmers zwischen zwei Ästen ihr Netz spinnt. Jeden Abend habe er dieses Netz zerstört und sei morgens früh aufgestanden, um die Spinne dabei beobachten zu können, wie sie sich vom einen zum anderen Ast schwingt, und jedes Mal sei er zu spät wach gewesen. Das Netz war immer schon bereits gesponnen. Dennoch habe er eine für seine gesamte Arbeit wichtige Lehre aus diesem Versuch gezogen: "To know a form you have to destroy it." Und Becker fährt fort: "Als ich Frederick Bunsen diese Geschichte erzählt habe, hat er ohne Zögern zugestimmt. Abstrakte Kunst entsteht aus der Zerstörung des Figurativen. Wenn Figur, Grund und Kontur aus dem Bild verschwinden, bleiben Figur, Grund und Kontur. Aber jetzt sind sie befreit von ihrer Bedeutung. Jeder Fleck auf dem Bild ist Figur, Grund und Kontur. Das Bild ordnet sich im Auge des Betrachters. Und umgekehrt. Das Auge ordnet sich im Bild des Künstlers. Befreit von seiner Bedeutung, sucht das Bild nach seinem Sinn. Dieser Sinn besteht darin, dass das Bild dieses oder jenes bedeuten könnte, aber erst im Auge eines konkreten Betrachters tatsächlich bedeutet."
Beckers Anmerkung zur Kommunikation zwischen Künstler und Werk, Betrachter und Werk führt uns zu Niklas Luhmanns Systemtheorie. Zu ihr hat übrigens Bunsen grundlegende Einsichten über Kunst beigetragen. Bei Luhmann bis zur Begegnung mit Bunsen ein weißer Fleck. Luhmann hat den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems als "Autopoiesis" bezeichnet und seine zentrale These lautet, dass soziale Systeme ausschließlich aus Kommunikation bestehen, also nicht aus Subjekten, Akteuren, Individuen oder ähnlichem und in Autopoiesis operieren. Darunter ist zu verstehen, dass die Systeme sich in einem ständigen, nicht zielgerichteten autokatalytischen Prozess quasi aus sich selbst heraus erschaffen. Die Systeme produzieren und reproduzieren demnach sich selbst.
Angewandt auf das Aufeinandertreffen von Kunstwerk und Betrachter aus systemtheoretischer Sicht findet eine autonome Kommunikation statt, die ein Dieses oder Jenes der Aneignung klärt.
Randerscheinung dieser Betrachtung ist, dass die Bildbezeichnung "ohne Titel" kommunikationsfördernd wirkt.
Nachdem wir nun zuerst ein Grundlegendes abgeklärt haben, nämlich den theoretischen Anspruch aus dem heraus Bunsen sein Werk formuliert, suchen wir in einem zweiten Schritt aus der Unterschiedlichkeit seines Journals Vergleichbares oder gar Verbindliches zu destillieren, Teile seiner gestalterischen Identität zu sichern.
Zweifellos ist dabei ein grundlegendes Gestaltungsprinzip die Auseinandersetzung zwischen Chaos und Logos. Neben Geflechte von Farben als Träger expressiver Spannungen stellt er Linien als Bauteile eines Organons. "Organon" ist hier verwendet im Sinne Karl Bühlers. Nach Bühlers "These von den drei Sprachfunktionen" hat ein Sprachzeichen eine Ausdrucksfunktion, eine Appellfunktion und eine Darstellungsfunktion. Die Ausdrucksfunktion macht ein Zeichen zum Symptom, die Appellfunktion macht es zum Signal und die Darstellungsfunktion macht es zum Symbol. Analog gilt das für das Kunstwerk genauso, denn das Werk entspricht dem Zeichen das zum Signal wird und in seiner Darstellungsfunktion wird es beim Betrachter zum Symbol. In der Kunst kann es zum mehrdeutigen Symbol werden, je nachdem wie der Betrachter die Darstellungsfunktion wahr-nimmt.
Hier ist die Betrachtung von zwei Selbstbildnissen Beispiel gebend. Das erste stammt von 1982 und ist damit die früheste Arbeit der Ausstellung, trägt hier die Nummer 2, ist aber als Beginn der Reise die Nr. 1. Die dargestellte Kommunikation ist die zwischen Bunsen und seinem neuen Umfeld an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Sie zeigt die Auflösung der Person in eine Kontur, die Lösung aus einem definierten Hintergrund auf der Basis changierender dunkler und weniger heller Parzellen. Mit dieser Arbeit offenbart sich eine erste Stufe auf dem Weg, den das George Spencer-Brown Zitat beschreibt: "To know a form you have to destroy it."
Im anderen Selbstportrait - die Nr. 5 der Werkschau - sprengt ein gestischer Farbwirbel einen begrenzenden Rahmen und meint Befreiung. Selbst die üblichen stabilisierenden Linien werden vom zentralen Gestus förmlich weggerissen.
Bunsens Reisejournal - hier auf nur achtzehn Seiten verdichtet - enthält Stationen wie die Nr. 4 "Ohne Titel" in Klammern: "Prag". Nach der Wende bezieht Bunsen hier ein Atelier, macht sich zum Teil eines Aufbruchs, der nicht wirklich zu einem wird.
Polen und Ungarn liegen auf seiner Reiseroute. Rot sticht aus Lithographien heraus, die bei Nalors Grafika in Vac in Ungarn entstanden sind. Auch seine Jahre in Cluj - Klausenburg als Gastprofessor an der Staatlichen Kunstakademie hinterlassen Spuren.
Natürlich zeigt sich Bunsen auch als experimentierfreudiger Künstler in seiner Zeit. Die Arbeit, die für den Einband zur Einführung in Luhmanns Theorie ausgewählt wurde erstellt er auf Plexiglas. In einer anderen Arbeit kollidieren Natur in Form eines Schmetterlings mit Kultur, die die Aufschrift "click here" trägt. Gegenüber wird mit dem Aufgang eines Gestirns gleichwohl eine Endzeitstimmung provoziert (oder etwa nicht?) und einen besonderen Hinweis gibt Bunsen an anderer Stelle mit einer veritablen Goldrahmung.
Journal of a Journey - die jüngsten Beiträge sind Zeichnungen aus dem letzten Jahr: Grafit, Acryl, Holzkohle auf Papier: Fragmentarisches und Überdeckendes, "Gehe über die Mauer" steht da und Geflechte werden entworfen, die undurchdringlich erscheinen und die Frage ihrer Bedeutung dem Betrachter mit Schonungslosigkeit aufdrängen. Bunsen als Zeichner: längst liegt hier ein Werk vor, dass endlich einmal gesondert präsentiert werden muss.
Die Rezeption der Kunst Bunsens findet statt jenseits des allgemeinen Unverständnisses gegenüber abstrakter Kunst, die so gerne mit gegenstandsloser Kunst verwechselt wird. Der Betrachter - unvorbereitet wie er sich für gewöhnlich hat - verweigert sich meist dem nicht unmittelbar Sichtbaren und begegnet ihm günstigenfalls auf einer Vermutungsebene von Form- und Farbästhetik. Die Akzeptanz eines Geistigen als Basis von Kunst wird - wie sehr Legende auch immer - mit großer Gelassenheit verweigert. Manche Künstler leisten dem auch Vorschub, wenn sie - wie zum Beispiel Otmar Alt - äußern: "Kunst, die man erklären muss, ist langweilig." Seltsam, denn gerade dessen Kunst ist ohne Erklärungen nichts weiter als bunt, ist aber weit mehr als das.
Kaum wird darüber nachgedacht, was einen Künstler zu seinen Bildäußerungen bewegt. Selten werden Künstler als Intellektuelle wahr-genommen. Wer bewertet schon die Anwesenheit Bunsens auf einem Luhmann-Podium, bei dem der Medientheoretiker Bazon Brock, der FAZ-Herausgeber und Journalist Jürgen Kaube, der Soziologe André Kieserling, der Theologe Dierk Starnitzke und der Rechtswissenschaftler Dieter Simon anwesend waren. Man gewinnt den Eindruck, dass weit mehr als ein Jahrhundert voller Theorieentwicklung in der Kunst am Publikum reichlich spurlos vorbei gegangen sind.
Es ist das alte Problem mit dem Geistigen in der Kunst, dass es den Umgang mit ihr so schwer macht und einer Kunst der ungeheuren Leichtigkeit des Seins so sehr entgegen steht, aber dieses Problem hat die Kunst mit allem Geistigen gemeinsam.
Prof. Dr. Helge Bathelt, M.A.