Eine Auswahl an Beobachtungen zweiter Ordnung

splat

Die Beobachtung zweiter Ordnung ist die Beobachtung einer Beobachtung bzw. die Beobachtung der Art und Weise, wie beobachtet wurde. Ein Beispiel dafür ist die Malerei: Die Betrachtung eines Gemäldes läuft darauf hinaus, die Beobachtung des Malers nachzuvollziehen, zu beobachten, wie er beobachtet hat, ohne die das Gemälde nie zustande gekommen wäre. Schließlich kann der Betrachter im Kunstwerk nachvollziehen, wie der Künstler in einer Kette von wesentlichen Schritten im Bildaufbau differenziert hat, was letztlich notwendig war, um sein Werk zur Vollendung zu führen. Dabei kann der Betrachter zweiter Ordnung am eigentlichen Akt der Entstehung des Bildes teilhaben.
Nach Niklas Luhmann.

Bunsen

Frederick Bunsen
"Das Kabelkalb" 1989, aus Eisendraht und weiteren Fundstücken

Bathelt, Helge: Kunsthistoriker, 2019

Den dialektischen Prozess nach dem Frederick Bunsen arbeitet hat er als thematische Instruktion über diese Werkschau geschrieben: "Aufhebung des Zustandes - mit der Option zu scheitern". Damit meint er die Formulierung seiner Kunst als permanente Auseinandersetzung mit einem angestrebt Gültigem, meint er die prinzipielle Ungewissheit eines Prozesses, der zwischen wissen, fühlen und gestalten eingespannt ist und der die Option des Scheiterns genauso beinhaltet: wie den Genuss eines Erreichten.

Einführung: Ausstellung in der Galerie der Stadt Herrenberg, 27.01.2019

Engholm, Björn: Politiker, 1984

Wer sein Leben auf Ruhe, Bestätigung und Konsens anlegen lernte - wird die Herausforderungen der ästhetischen Unruhestiftung durch Bilder, wie die Bunsens, nicht aufnehmen können.

Einführung: Ausstellung in der Galerie Hartje AKMAK Berlin, 2. Dezember 1984

Kessler, Michael: Theologe, 2011

Das zum Leben-Gelangen der Linie; sodann ihr Gesteuertwerden und ihre Selbststeuerung; ihre Dynamik und Statik; ihre Verdichtungen bis an die Grenze des Konkreten, gar Figurativen auf der einen, ihre Evokation von Tiefenraumtransparenz auf der anderen Seite; ihre Konsonanz, ihre Divergenz, ihre Symphonik - all das bewirkt etwas Neues, eröffnet eine neue, eine andere Welt, deren Fremdvertrautheit Kommunikation intendiert und ermöglicht.

Einführung: Ausstellung in der Galerie in der Musikhochschule Rottenburg am Neckar, 23. Oktober 2011

Kitzing-Bretz, Martina: Museumskuratorin, 2004

So wie der amerikanische Maler und Grafiker 1973 im Rahmen eines Austauschprogramms der Universität die Grenzen seines Landes überschritt und sich in Stuttgart ansiedelte, geht seine abstrakte Kunst in ihrer Tiefenräumlichkeit weit über Begrenztes, über das Messbare hinaus. Gestisch gemalte Lebensstriche, die er flächendeckend bündelt oder transparent gestaltet. bilden diese Räume, in denen sich seine Grenzerfahrung widerspiegelt. Bunsens grenzüberschreitende Lebensweise blieb auch weiterhin für ihn bestimmend, hielt er sich doch etwa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Tschechien, Polen, Ungarn und Rumänien auf. Durch dieses Unterwegssein begreift er seinen eigenen Lebensweg und sich selbst viel besser: Der Lebensweg des Künstlers lässt sich in seiner Malerei an den sich kreuzenden und verdichtenden Strichen ablesen. In ihrer Grenzenlosigkeit und Offenheit geht sie über das Diesseits hinaus ins Transzendente und bedeutet zugleich die Freiheit des Selbst.

Aus: Ausstellungskatalog "Land auf Land ab", Karlsruhe und Stuttgart im Kaleidoskop der Sammlung Würth

Krämer, Michael: Schriftsteller, 2007

Kunst, die Zeichnungen von Bunsen als Beispiel, verführt zu nichts, außer zum Sehen. Diese Art von Kunst will nichts Wegweisendes sein im Sinn einer utopischen Handlungsanweisung oder im Sinn einer alltagskräftigen Tu-das-so-Weisung. Und gerade deswegen gehört sie in die Gegenwart, genau das macht nach aller Erfahrung ihre eigene Sinnhaftigkeit aus. Diese Kunst will einfach nur da sein, wahrgenommen werden und heißen, was sie ist: Zeichnung.

Stuttgart 2007

Luhmann, Niklas: Systemtheoretiker, 1990

Offenbar sucht die moderne Kunst eine ganz andere Art von Provokation des Betrachters. Sie legt es darauf an, selbst als Beobachter beobachtet zu werden. Sie sucht Verständigung im wechselseitigen Beobachten des Beobachtens. Wenn man Künstler in Operation beobachtet, fällt auf, daß sie sich an ihre Mittel halten, den Einsatz ihrer Mittel beobachten, kontrollieren, eventuell korrigieren bis hin zur Destruktion und zum Wiederaufbau eines in Arbeit befindlichen Werkes. (Ein Einblick, den ich einem Gespräch mit Frederick Bunsen verdanke).

In: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld: Cordula Haux 1990, S. 9

Minz, Karl-Heinz: Theologe, 2020

Die neue, große Homepage von Frederick Bunsen fasziniert. In ihren zahlreichen Elementen und Facetten vermittelt sie sein gesamtes Werk derart, dass sich in den zahlreichen Themenblöcken mit ihren Verknüpfungen die Vielfalt, aber auch die gedankliche Tiefe seines Schaffens präsentiert. Die Lineaturen sind von der Systemtheorie Niklas Luhmanns bestimmt: Beobachter und Beobachtungen in ihren unterschiedlichen Ordnungen und Unterscheidungen. Sinn dieser Kunst ist ihr Verweisungsüberschuss. Programmatisch erscheint dieses Axiom in konziser Formulierung daher gleich auf der Titelseite in roter Schrift: "Kunst ist system-emergent." Dieses Opus magnum der Homepage zeigt das schöpferische Wirken, damit verbunden aber auch die "Mühe des Begriffs" (im Sinne Hegels). Zugleich macht es sichtbar, was Kunst heute zu leisten vermag.

Düsseldorf, 20.05.2020

Renz, Peter: Schriftsteller, 1994

Ein Abend im November (1989), vielleicht lag schon Schnee, wir warteten auf einen Dichter, der sich verspätet hatte. Es floß Wein in Strömen. Um uns die geschenkte Zeit zu vertreiben, gefiel es uns, den Zufall für ein Gespräch zu nutzen. Bunsen voll Feuer, in barocken Gewölben flackerte die Ahnung einer möglichen Gemeinsamkeit. Was der später eintreffende Dichter dann vorlas, blieb nicht mehr hängen. Dafür unser Gelächter. Danach Funkstille, fast ein Jahr lang. Zum Schwierigsten gehört die Bewährung von Freundschaft. Durch keine Kunst zu befördern, bleibt sie immer ein Geschenk glücklicher Fügungen. Am Ende hilft nur Geduld. Die Hebamme auch der Kunst: Warten können, bis etwas reif geworden ist. Bunsens Herausforderung im weitläufigen Flur des barocken Klosterflügels einer Benediktinerabtei trieb die Verantwortlichen in Grenzsituationen. Gegen den ostinaten Jubelton der Architektur setzte er das einzige, worauf er sich verlassen konnte: Schlichtheit, aufrichtigen Ernst. Seine brennende Gegenwart war Performance. Es roch nach Korn, nach schwerer Arbeit, Fron und Zehnten. Die Schwerkraft des Lebens. Ein Stein hing am Faden. Beginnender Dialog mit dem Ungewissen. Was davon blieb, ist die Begeisterung, die uns verbindet.

Einführung: Ausstellung in der Galerie Walz Stuttgart, 11.1994

Röttgen, Herwarth: Kunstwissenschaftler, 1984

Es sind Bilder des Vergänglichen. Der Künstler überlegte sich als Ausstellungstitel "Bunsen im Wunderland". Es ist das Wunderland der Sinnlosigkeiten auf einen absurden Sinn gebracht, nämlich den der Vergänglichkeit der menschlichen Komödie, der Scheinhaftigkeit aller Perspektiven in den Stadtlandschaften und der absurden Prozesse widerstreitender Richtungen. Skelette, Kopfe, Automobile, Briefe, Noten verweisen auf "vorganglich-nachgangliches Leben und Tod", wie Bunsen mit der sprach-schopferischen Unbekümmertheit eines imaginativen Menschen sagt, der die ihm nicht unmittelbar eigene deutsche Sprache mit kindlicher Freude an dem, was dabei herauskommen konnte, gebraucht, so wie er auch von "Vergangenzeit - Gegenzeit" spricht. Die sich überlagernden vielschichtigen Texturen von Farbbahnen und Farbflachen, durchlässig in der Flache und zugleich umschlagend in Raumperspektiven, mal in ganz fadenscheinigen Flachenstrukturen, mal in straffen Diagonalen, Vertikalen und Horizontalen, sind für den Künstler verdichtete Erinnerung an die Stratigraphie der täglichen städtischen Impressionen. Es handelt sich dabei nicht immer um die Anschaulichkeit von Straßen-perspektiven, sondern oft um bloße mentale Umsetzungen. Seit action painting und Informel wissen wir, daß es sich um die Umsetzung von Empfindungen, Zustanden in kreative Motorik dreht. Die gewählten Titel haben denn auch oft rein assoziativen Ursprung, denn ebenso wie der Betrachter bringt auch der Künstler sein Handeln erst im schaffenden und auch im nachvollziehenden Prozeß auf einen Begriff.

Der Künstler selbst freut sich im Gespräch an all dieser Menschen-Komodie, so als ob in der Vergänglichkeit als einziger Sicherheit doch ein fröhlicher Trost lebe. Der Mensch hat seine Stadtlandschaften zu guter Letzt doch überwunden und ruht sich im Grabe auf Noten und Briefen aus: "Send my cheques to heaven" oder was siehst Du?

Einführung: Ausstellung in der Galerie der Universität Stuttgart, Stuttgart 1984

Sudbrack, Josef SJ: Theologe, 1991

Auf der Suche nach einem 'abstrakten' Dreifaltigkeitsbild von heute war nur Frederick D. Bunsen zu finden, der den Mut hat, ein 'ungegenständliches' Bild mit dieser direkten religiösen Aussage zu verbinden. Das wiedergegebene Gemälde gehört in einen Zyklus mehrerer Bilder mit dem gleichen Titel 'Trinität' - Dreifaltigkeit.

Aus: "Der göttliche Abgrund", 1991 Echter Verlag Würburg, S. 49-50

Von Helmot, Christa: Journalistin 1982

Frederick Bunsen gehört zu jenen Künstlern, für die die Unmittelbarkeit der Erlebnisse auf den verschiedensten Gebieten - des privaten wie geistigen politischen oder sozialen - zum Thema ihrer Arbeit werden. Diese Unmittelbarkeit setzt sich bei ihm jedoch nicht frei als wilde, unkontrollierte, spontane Malerei; sehr ernsthaft und gedankenvoll wird sie gefiltert und umgesetzt durch sein verantwortungsvolles ästhetisches Bewußtsein. In diesem Umsetzungsprozeß verliert Bunsens Malerei jedoch nicht an Frische und Empfindlichkeit, wie seine im Amerikahaus gezeigten Arbeiten bewiesen, so etwa die Folge von Kaltnadelradierungen, die er "Freiheitssuite" nennt. Sie wecken Assoziationen zur Todesgrenze zwischen den beiden deutschen Staaten; Freiheit vergräbt sich jenseits des Stacheldrahtes, Freiheitswille verursacht Schmerzen. Bunsen arbeitet gern mit Sequenzen und folgen. Seine vierteilige Bildserie "Gesicht" zeigt - etwas zu nahe vielleicht an Giacomettis Köpfen - die Steigerung der Empfindung in den Gesichtszügen eines sensiblen Menschen. Die Folge "Stadtbilder" und "Telephonzelle" sind Momentanaufnahmen zum Thema der Vereinzelung wie auch der Hoffnungsvollen Bereitschaft zum mitmenschlichen Kontakt inmitten einer Wüste lebloser Steine.

Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung 1982

Wirth, Günther: Kunstschriftsteller, Kritiker und Kurator, 2005

1980 verließ Bunsen die Akademie als Meisterschüler und bezog in Stuttgart sein erstes Atelier. Dann folgten suchende Wanderjahre mit vielen Ortswechseln. Es lockte die Lehre und die Gründung von Künstlergruppen. Seine intensive künstlerische Arbeit (s. u.) ist von lebendig-kreativer Unruhe geformt. In diesem vielschichtigen Bild durchdringen sich in schön reduzierter Farbigkeit Flächen und Räume. Im Schwingen der Farbbahnen öffnet sich die Komposition, die aber dennoch rätselhaft bleibt und dem Betrachter das Geheimnisvolle vermittelt.

Aus: Ausstellung und Katalog der LBS Sammlung Stuttgart